ULRIKE OTTINGER
WELTBILDER
Ulrike Ottinger schafft verstörend schöne Bilder. Sei es als Filmemacherin, als Fotografin oder als Szenografin opulenter Installationen wie eben jetzt in der kestnergesellschaft. Wie ein roter Faden zieht sich ihre Neugier auf das Fremde und Andere durch all ihre künstlerischen Bühnen. [...]
Nach meinen Begegnungen mit Ulrike Ottinger hatte ich den Eindruck, dass sie die Welt um sich herum ausschließlich in visuellen Einstellungen wahrnimmt, als Miniplots, die Fragen aufwerfen oder Erkenntnisse preisgeben. Die Skizze ist für sie Werkzeug zum Finden von Lösungen. Die Vielfältigkeit ihrer Themen und Interessen ist beeindruckend; sie ist eine Reisende von einer Expedition zur nächsten, eine rastlose Tiefsinntaucherin. Ihre Forschungsergebnisse übersetzt Ulrike Ottinger in theatrale Bilder, in bizarr-surreale Staun- und Schaustücke, wobei sie Differenzen und Devianzen für paradoxe Realitätsverzeichnungen einsetzt. Das gilt natürlich zuerst für ihre Spielfilme, aber auch für die dokumentarischen Arbeiten, bei denen sie die unausweichlichen kulturellen Differenzen zivilisatorischer Rituale durch farbstark komponierte Kamerabilder emotional auflädt.
Veit Görner
Zur Ausstellung ist ein Katalog mit Texten von Veit Görner, Antonia Lotz und Hanne Bergius erschienen.
Es ist ein altes Buch zu blättern, Athen – Oraibi, alles Vettern. – Aby Warburg
Mit diesem Zitat begrüßt Ulrike Ottinger die Besucher ihrer Ausstellung »Weltbilder«. Der von Aby Warburg 1923 notierte Satz schwebt, flankiert von zwei Eulen – Sinnbild der Weisheit und Wahrzeichen Athens – über den sechs Türöffnungen, die den Zutritt zu den Bildern der Welt ermöglichen. Noch davor zwischen den Eingängen präsentiert Ottinger fünf ihrer Dreh- und Arbeitsbücher, die im Kontext eines jeden Projekts – Film oder Ausstellung – entstehen und mit Skizzen, Grundrissen, Textfragmenten, Dialogen, Regieanweisungen, Filmeinstellungen und zahlreichen Bildern bestückt sind. Schon in ihnen eröffnet sich die Welt der Bilder Ottingers – ihr Denken in und mit Bildern: Dokumentarisches steht hier neben Fiktivem, selbst aufgenommene Fotos neben gefundenen Materialien, Abbildungen traditioneller Trachten neben selbst entwickelten Kostümen und Masken zu ihren Filmen.
»Ich sehe keinen Unterschied zwischen Spielfilmen und Dokumentationen, weil ich immer beides mache, « so die Künstlerin in einem Interview von 2004. Nicht nur in ihren Filmen, mit denen Ottinger bereits in den 1970er und 1980er Jahren international Furore machte (allen voran ihrer Berlin-Trilogie, 1979–1984), verschwimmen die Grenzen zwischen Realität und Illusion. Auch ihre Fotografien (die immer schon als eigenständige Werke parallel zu den Filmen entstanden), Bühnenstücke und ihre als begehbare Collagen angelegten Ausstellungen mit Assemblagen, selbst entworfenen Objekten und Exponaten aus ethnografischen oder naturkundlichen Sammlungen sind durch dieses Wechselspiel geprägt.
Den Auftakt zur Ausstellung bilden mit der Auswahl der präsentierten Arbeitsbücher die Ideen, Skizzen, Recherchen und Hintergründe zu Ottingers Filmen »Johanna d’Arc of Mongolia« (1989) und »Zwölf Stühle« (2004) sowie zu den Ausstellungen »Faces, Found Objects and Rough Riders« (2004), »Floating Food« (2011) und »Weltbilder«. Es folgen im ersten Raum die Verknüpfung und Gegenüberstellung verschiedener kleinerer Fotografien, einem Federvorhang, einem Altar und dem großen Bild eines Lasso schwingenden mexikanischen Reiters. Auf der einen Seite der Halle hängen Bilder der »Schamanischen Séance der Schamanin Bajar« (1991), die Ottinger auf ihrer Reise in die Mongolei miterlebte, gepaart mit Fotos der »Knochenkapelle Sedlec« (1998), einer mit Gebein-Skulpturen dekorierten Friedhofskirche in der Nähe Prags. Auf der anderen Seite finden sich übereinander gehängt die »Faces« (fünf Schwarz-Weiß-Porträts) und die »Found Objects« (Assemblagen aus talismanartigen oder religiösen Objekten ergänzt durch Federn, Fotos und Zeichnungen). Sie entstanden während eines Aufenthalts in San Antonio und Beobachtungen der Charreada, einer Art Rodeo, sowie anderer mexikanischer Traditionen, wie dem Día de los Muertos.
Ein zweiter Raum der Ausstellung wird bestimmt durch mehrere »Landkartenobjekte« (2011) mit aufgenähten oder an roten Bändern befestigten Postkarten, die Ottinger von ihren Freunden aus allen Weltecken zugesandt wurden. Ausgehend von einer in der Mitte des Raumes auf einem flachen Podest liegenden Landkarte der südlichen Hemisphäre spannen sich rote Stoffbänder zu weiteren Fotografien und Objekten der Installation. Es sind Bilder von Landschaften und Tieren der Taiga sowie den dort lebenden Nomaden und ihren Behausungen, Opferstätten, Gewohnheiten und Tätigkeiten. Assemblagen und Objekte ergänzen die Installation sowie die Präsentation der Filmmontage »Auf dem Schischgid zu den Rentiernomaden der Taiga« (1992/2011) aus dem Kontext des Films »Taiga« (1992), einem achtstündigen Epos Ottingers über die Yak- und Rentiernomaden des Darchad-Tals im Norden der Mongolei.
Mit der Dia-Installation »Bildarchive« (2004) im dritten Raum wird die abwechslungsreiche Ausstellung um weitere Bereiche aus dem Bilderkosmos Ottingers ergänzt. Die Projektionen sind nach thematischen Schwerpunkten gegliedert, die Ottinger seit Jahrzehnten verfolgt: »Alltag«, »Theatrum Sacrum«, »Rahmen«, »Farbe«, »Markt«, »Essen«, »Landschaft«, »Architektur«. Dabei sind die »Grenzen zwischen den Kapiteln fließend«, wie es Ottinger 2005 beschreibt. Bilder fremder Welten und Kulturen, Bilder von Flagellanten, Zwergen und Zwitterwesen, Bilder des Lebens von Ulrike Ottinger, ihrer Filme und ihrer Reisen begegnen den Betrachtern und konfrontieren ihn mit dem vermeintlich Fremden auf extreme, oft auch stereotype und überraschend detaillierte, beobachtende Weise.
Wie Aby Warburg in dem der Ausstellung vorangestellten Satz, mit dem er selber seinen Vortrag »Bilder aus dem Gebiet der Pueblo-Indianer (Das Schlangenritual)« aus dem Jahr 1923 begonnen hat, eine Verwandtschaft zwischen der Wiege der Kultur Europas und der Kultur der im nordöstlichen Arizona lebenden Hopi-Indianern andeutet, macht auch Ottinger in der Ausstellung auf die Nähe und Ähnlichkeiten zwischen den verschiedenen Kulturen aufmerksam. Die Landkarten mit applizierten Fäden und den davon ausgehenden im Raum verspannten Seilen verweisen dabei auf die Bedeutung der Wasserwege bezüglich des lange währenden Austausches zwischen ihnen, oder wie Ottinger es 2011 beschreibt: »Auch waren es die Wasserwege, die das Zusammentreffen von weit auseinanderlebenden Menschen und den Austausch ihrer Ideen, Kulturen, ihrer Sprachen, Religionen und Kulturtechniken überhaupt erst möglich machten. Auf diesen Transportwegen begann lange vor unserer Zeitrechnung das, was wir heute ›Globalisierung‹ nennen, mit allen Vorzügen und Nachteilen.«
Die »Weltbilder« Ottingers öffnen den Blick für Traditionen, Feste und Alltag der Kulturen Asiens, Mittelamerikas und Europas und spürt deren verborgene Verbindungen auf. Sie bieten die Möglichkeit, Vergleiche an- und Bezüge herzustellen und sich in eine humorvolle, spielerische und erhellende Auseinandersetzung mit dem Fremden und Anderen zu verstricken, sich diesem zu nähern oder sich selbst in ihm zu erkennen. – kestnergesellschaft Hannover, 2013