VAN TOTEM TOT LIFESTYLE

Museum van de Tropen, Amsterdam: 25.03.-16.08.1987

Gruppenausstellung

Ulrike Ottingers Installation „Europa und der Stier“

Weitere Station der Ausstellung: Museum für Kunsthandwerk, Berlin

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(1988) Sykora, Katharina: „Über die Vitalität der Mythen. Ulrike Ottingers Installation ‚Europa und der Stier‘“,

in: Die Verführung der Europa, Ausstellungskatalog, Kunstgewerbemuseum Berlin 1988, S. 233-236.

Ulrike Ottingers Installation „Europa und der Stier“

„… die Antworten, die die Mythenstoffe zu liefern scheinen, erweisen sich auf den zweiten Blick jedesmal als offene Fragen, als etwas, das noch nicht an sein Ende gekommen ist.“ [1]

Es handelt sich zweifellos um einen Ort mythischer Inszenierung, in dessen Bannkreis sich die Betrachter der siebenseitigen Zeltinstallation begeben, die Ulrike Ottinger „Europa und dem Stier“ gewidmet hat. Allein der bekrönende Stierschädel mit der goldenen Sonnenscheibe zwischen dem Gehörn und die üppigen Widdergeweihe, die sich wie schwere Locken über den Eingang herabschlängeln, laden die Atmosphäre auf mit Konnotationen archaischen Totemismus. [2]

Auch die Mischung aus nomadischer Hütte und Pyramidenzitat verweist auf eine imaginierte Herkunft aus prähistorischer Zeit. Der Eintritt in das Innere jedoch bleibt verwehrt. Wie die Chorschanke christlicher Sakralarchitektur stellt sich der dreieckige Rahmen des Eingangssegments zwischen „Kult“-Raum und Betrachter.

Der Blick bricht sich so an der Distanz der einseitig festgelegten Sehrichtung von außen nach innen; die Aura bleibt gewahrt, wenn man aus der genau bemessenen Ferne im gedämpften Licht des Innern die scheinbar schwerelosen Gegenstände und ihre Schattenrisse vor der himmelfarbenen Wandverkleidung wahrnimmt: Ein Fächer aus Adlerfedern und ein afrikanischer Zauberstab mit geschnitztem Vogelkopf[3] senken sich dort herab auf ein horizontal aufgespanntes Neondreieck. Dabei überlagern sich ihre Schatten derart, dass dem Widerschein des Totemvogels Schwingen wachsen und er wie im lichterfüllten Äther emporzufliegen scheint.

Analog zur ursprünglichen Wahrnehmung im platonischen Höhengleichnis[4] wird hier für einen Augenblick die absolute Gültigkeit, wenn nicht Überlegenheit der Schattenbilder lebendig. Doch unser Standpunkt „außerhalb der Höhle“ zwingt uns zurück zur geteilten Sicht auf eine „Wirklichkeit“, die stets zerfällt in die Dichotomie der Gegenstände und ihrer Schatten, in die Ding- und die Ideenwelt.

Dennoch scheint in Ulrike Ottingers Re-Inszenierung eines archaischen Kultortes ein Grundversprechen des Mythos auf, das sich aus der animistischen Vorstellung von der ausnahmslosen und ungeteilten Beseeltheit aller Dinge und Lebewesen ableitet. Die atmosphärische Dichte, die die Binneninszenierung der Installation ausströmt, gründet sich auf diesen Gedanken, der in allen Religionen aufgehoben ist. Nicht zuletzt taucht er auch als Reminiszenz in der christlichen Trinitätsvorstellung auf, als dessen Zeichen das Neondreieck neben anderen Bedeutungsschichten gelesen werden kann.

Dieser magisch-religiöse Kern durchdringt die unendlichen Variationen der Einzelmythen. So lassen sich im Umschreiten des Zeltes vielfältige Modifikationen des Mythos von Europa und dem Stier ablesen. Die Bildzitate leben dabei immer von der Relation zum zentralen mythologischen Kern. Als dessen Kehrseiten bilden sie sich auf derselben (Zelt)Membran ab, die auch das „Innere des Mythos“ konstituiert. Trotz ihrer Transformation durch unterschiedlichste Materialien und Kulturtechniken – u.a. die „primitive“ Holzschnittkunst, die antike Vasenmalerei, den vorimpressionistischen Kolorismus oder die „modernen“ Techniken von Photographie und Neon – bleiben in Ulrike Ottingers Installation die Archetypen als Konstanten präsent.

Ausgehend von den beiden Rahmensegmenten des Eingangs ist zur Linken das malerische Zitat einer expressionistischen Darstellung des Europa-Themas nach Max Beckmann[5] zu sehen, zur Rechten eine heiter-erotische Version von Gustave Moreau[6].

Sie markieren zwei emotionale Extreme der künstlerischen Umsetzung des Themas.

Beckmanns 1933[7] gemalter „Raub der Europa“ ist in der apokalyptischen Darstellung von Gewalt ein radikaler Kommentar auf das damalige Zeitgeschehen. Analog den gefesselten und gefolterten Menschen seiner Triptychen ist die nackte Europa dem schwarzen Stier über den Schultergürtel gebunden; ihr zum verzweifelten Schrei geöffneter Mund entspricht dem Ausdruck des sich aufbäumenden Stiers, der ebenso wie sie gewaltsam in den verengten Bildahmen verkeilt ist.

Das Gustave-Moreau-Zitat[8] auf der rechten Seite der Zeltöffnung bezeichnet dagegen den anderen, lichten, erotischen Pol; Europa und der Stier bilden hier ein Paar, überfangen von einem Eros, der von ihrer Liebe kündet. Zärtlich schmiegt sich Europa an die Rückenlinie des weißen Stiers, ihr goldblondes Haar fällt an seinem Haupt entlang und vereint sich mit dem Strahlenkranz seines Sonnennimbus. Das weibliche Sexualsymbol des Blumen- bzw. Jungfernkranzes hat sie bereits als Halsschmuck an ihren Geliebten entäußert. Der in den Lüften aufwogende Mantel wie auch der Galoppschritt des Stiers sind Zeichen für die Vehemenz ihrer Leidenschaft. Dennoch strömt das Moreau-Zitat eine gelassene Heiterkeit aus, die der gewaltsamen Arretierung des Beckmann-Flügels diametral entgegensteht.

An das erotische Zitat des 19. Jahrhunderts schließt sich in der Installation ein Kompartiment an mit der Europa-Darstellung einer rotfigurigen Vase aus dem 5. Jahrhundert v. Chr.[9]; hier handelt es sich um die außergewöhnliche Version der neben dem Stier schreitenden Europa, die das Tier mit ihrer Hand neckisch am linken Horn führt. Der Stier, in weicher Umriss- und Binnenzeichnung modelliert, schaut milde-ergeben aus großen Augen seine schöne Verführerin an. Eine Metaebene antiker Dichtung wird hier manifest, die Europa zwar ihre Schönheit als passives Charakteristikum zugestand, die aber die Heldin als handelndes Subjekt im Liebesspiel mit dem göttlichen Werber umwandelte in ein Opfer verfolgter und geraubter Unschuld[10].

Über der Szenerie prangt wuchtig das Haupt der Medusa, das mit seiner Verschmelzung von Frauengesicht, Maske und Tierkopf den bannenden Schrecken des Monströsen ebenso verkörpert wie das Moment des Grotesken, ein Hinweis darauf, dass die Überschreitung von Wesens- und Formenschranken, wie sie auch im Europa-Mythos auftaucht, als Voraussetzung des Übernatürlichen, Göttlichen galt.

Das folgende Zeltsegment führt zurück auf die magisch-totemistische Materialität eines schwarzweiß gefleckten Stierfells, das einer Landkarte ähnlich vor uns ausgespannt ist. Der abgeschnittene Schwanz ist an die Dreiecksbasis appliziert; er züngelt sich wie eine Flamme empor und weist hinauf zur Spitze  des Zeltdaches, wo – wie zuvor das Gorgonenhaupt – der Stierschädel mit der Sonnenscheibe frontal, in seiner vollen suggestiven Bannkraft, thront.

Eine konsequente Verschiebung bildet hier die nächste Bildkonstellation, die Zitate des „magischen Realismus“, der „pittura metafisica“ eines Giorgio de Chirico kombiniert mit einer zur Schablone geronnenen, puppenhaften Votiv-Madonna. Beide Aspekte versetzen uns in die mediterrane, hispanische Atmosphäre von Katholizismus und Stierkampf, von Machismo und seinem Komplement des latent matriarchalen Marienkults. Der Torero taucht jedoch nur noch als Schatten auf zwischen verödeter, antikisierender Monumentalarchitektur; sein Degen geht ins Leere. Im azurblauen Himmel darüber schwebt die Gnadenmadonna mit der Halbmondsichel bzw. dem Stiergehörn zu ihren Füßen. Im trichterartigen Schutzmantel doppelt sich die Zeltform der gesamten Installation, als berge die christliche Himmelsgöttin auch die archaischen Überlieferungen sowohl der jungfräulichen als auch der Muttergottheiten in sich. Gleichzeitig fungiert sie als deren Überwinderin, indem sie sich über die heidnischen Zeichen des Halbmondes und des phallischen Stierhorns erhebt, so wie sie der „Schlange den Kopf zertritt“.

In der nächsten Szene schließlich gilt die Vernichtung des Stiers scheinbar keinem symbolischen Gehalt mehr; die lebensgroße Photographie einer Schlachthausszene gibt sich „realistisch“. In der Körperbiegung des Schlächters scheint sich zwar die Haltung des Schattentoreros zu wiederholen, aber nicht die Geschicklichkeit des Stierkämpfers wird hier wirksam, sondern der routinierte Griff professionellen Tötens trennt den Kopf vom Rumpf.

Die Nahaufnahme der Tötungsmaschine im oberen Bildteil liest sich in diesem Zusammenhang wie eine Tautologie. Sie funktioniert wie die nachdrückliche Beteuerung, hinter dem Vorgang des Schlachtens verberge sich kein Geheimnis mehr. Vordergründig scheint hier der Mythos endgültig seiner Substanz beraubt, wäre da nicht das Pathos, mit dem die Entmythologisierung selbst immer wieder auf die eigenen Wurzeln verweist. Denn auch im Zwang der sich wiederholenden Vergewisserung, dass der Mythos endgültig überwunden sei, schreibt sich dieser unendlich fort.

Katharina Sykora

 

Anmerkungen

[1] Zitiert nach R. Schlesier (Hrsg.), Faszination des Mythos. Studien zu antiken und modernen Interpretationen, Basel und Frankfurt a.M. 1985, Vorwort S.7

[2] Vgl. dazu etwa die früheren Stierdarstellungen aus dem Paläolithikum, z.B. in den Höhlen von Lascaux und Altamira, und ihr konstantes Auftauchen in voneinander völlig unabhängigen Kulturen und Zeiten, u.a. in Zentralasien, Europa und Afrika.

[3] Auch der Stab mit dem Vogelkopf, der bei afrikanischen Naturvölkern vorkommt und dem ägyptischen Ewigkeitsstab des Osiris ähnelt, taucht bereits in Lascaux in einer Höhlenzeichnung auf, die im Nachhinein den Titel „Der Zauberer“ erhielt.

[4] Platon, der Staat (7.Buch)

[5] Max Beckmann, „Der Raub der Europa“, 1933. – S.a. Kapitel 15, S. 196

[6] Gustave Moreau, „Entführung der Europa“, Paris 1869

[7] Das Bild entstand nach seiner Emission aus der Frankfurter Städelschule durch die Nationalsozialisten.

[8] In der Umsetzung der Moreau-Vorlage ist gleichzeitig „eine kleine Geschichte des Impressionismus“ (U. Ottinger) aufgehoben: Vom unteren Bildbereich, in dem die glasfensterartige Pigmentierung Rouaults wiedergegeben ist, bis zur Duftigkeit des Pointillismus in den oberen Sphären wird angedeutet, wie der Einfluss Moreaus, der zu seinen Lebzeiten keine adäquate Anerkennung fand, in die Werke seiner Schüler eingegangen ist.

[9] Europa-Darstellung des sog. „Berliner Malers“ auf einem Glockenkrater des rotfigurigen Stils, Tarquinia, Museo Nazionale.

[10] Ein weiterer Subtext dieser Vasendarstellung verweist auf die analogen Schilderungen bacchantischer Opfermysterien, innerhalb deren eine Mänade den Stier zum Altar des Dionysos führt, dem er zum Schlachtopfer gebracht wird. Vgl. Zahn 1983, S. 32ff., und I. Lindner, Die rasenden Mänaden. Zur Mythologie weiblicher Unterwerfungsmacht, in: Barta 1987, S. 282 ff.

Ausstellungsansichten Tropenmuseum Amsterdam

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