Clara S.

Musikalische Tragödie von Elfriede Jelinek

Inszenierung und Bühne: Ulrike Ottinger | Produktion: Staatstheater Stuttgart

Das anachronistische Zusammentreffen dreier historischer Personen: Clara und Robert Schumann begegnen dem italienischen Dichterfürsten und Nationalhelden Gabriele d'Annunzio im Jahre 1929 in dessen Villa. Hauptthema ist das Spannungsverhältnis von Kunst und Geld, das vor allem Clara betrifft. Bis zu ihrer Heirat eine berühmte Pianistin und Komponistin, hat sie sich mittlerweile ganz in den Dienst von Roberts Karriere gestellt und ist nur mehr die aufopferungsvolle Künstlergattin. Die "wahnhafte Sucht" des Mannes nach "Ori-gi-na-li-tät" kommentiert und konfrontiert Jelinek mit ihrer eigenen Schreibpraxis - nicht Charaktere treten auf, sondern Figuren als Sprachträger, die sich in einem Geflecht aus fremden Stimmen bewegen. Clara S. demontiert den Geniekult und zeigt die Unmöglichkeit der Frau, ihre Kreativität im Kunstbetrieb zu verwirklichen.

Premiere: 3. Mai 1983 | Weitere Stationen: Theaterfestival München, Theaterfestival Avignon
Fotografien
Besetzung/Stab

Musikalische Tragödie von Elfriede Jelinek

Inszenierung und Ausstattung Ulrike Ottinger
Dramaturgie Regine Friedrich
Gabriele d'Annunzio Veruschka von Lehndorff
Clara S. Monika Schwarz
Robert S. Reent Reins
Marie Mara Tomíc
Luisa Baccara Hanna Köhler
Aélis Mazoyer Helga David
Carlotta Barra Martina Steckenborn
Donna Maria Maria Wiecke
Zwei Irrenwärter Hans-Werner Marquardt, Ralf Beckord
Pressestimmen

Thomas Rothschild: Geschlecht oder Charakterlosigkeit. Ulrike Ottinger inszeniert Elfriede Jelineks „Klara S.“
Frankfurter Rundschau, 16.05.1983

STUTTGART. Zweiter Anlauf für Clara S. im Württembergischen Staatsschauspiel. Die Mißverständnisse konnten auch hier nicht ausbleiben. Als wollte sie das Stichwort liefern, geiferte eine ältere Frau aus der Tiefe des Zuschauerraums: "Schwachsinn!" Clara S. atmete durch und sprach von der Rampe jene späte Zeile, die Elfriede Jelinek ihr in den Mund gelegt hatte: "Ich habe jetzt keine Angst vor weiblicher Radikalität mehr." Als hätte die Regie den Zwischenruf vorausgeahnt, hatte sie vorsorglich die Fortsetzung des Satzes gestrichen: "...und erklimme soeben ein phallisches Symbol."
"Clara S." - ein feministisches Pamphlet? Weit gefehlt. Elfriede Jelinek ist zu gescheit, das Theater mit jenen Orten zu verwechseln, an denen der eigentliche politische Kampf (also auch der um die Rechte der Frau) stattfindet. Sie ist zu sehr engagierte Schriftstellerin (und das Substantiv ist da ebenso zu betonen, wie das Attribut), um Kunst mit Leben zu identifizieren.
Tom Stoppard hat seine hypothetische Begegnung von Lenin, James Joyce und Tristan Tzara "Travesties" genannt. Der Titel eignete sich auch für Jelineks fiktive Konfrontation der Clara Schumann mit Gabriele d'Annunzio. Im Gegensatz zum wissenschaftlichen Essay braucht sich das Theater ebenso wenig um die historische Wahrheit (was immer das sein mag) zu kümmern wie um die Komplexität, die Vielfalt der Aspekte, die das Problem des Verhältnisses von Geschlecht und schöpferischer Entwicklung enthält. Clara S. verkörpert die Unterdrückung der künstlerischen Fähigkeiten der Frau durch die patriarchalische Gesellschaft und in Übereinstimmung mit ihr, d'Annunzio verkörpert den faschistischen Typus, der sich seine (weibliche) Umwelt mit den Mitteln der Sexualität und der Ästhetik untertan macht.
Was hier so verknappt wie ein Thesenstück klingen mag, lebt in Wirklichkeit aus Sprache und Figurenkonstellationen, es gibt dem Theater, was dem Theater gebührt. In der Gemeinschaftsproduktion des Württembergischen Staatstheaters, des Theaterfestivals München und des Festivals d'Avignon, die in Stuttgart Premiere hatte, führte die Filmemacherin Ulrike Ottinger Regie. Es ist ihre erste Arbeit für die Bühne, und sie hat sich den Geist des Textes zueigen gemacht. Seinen Anachronismus als Prinzip und sein spröde Montagetechnik führt sie im räumlich-optischen weiter. Einen Vorschlag der Autorin aufnehmend, orientiert sich Ulrike Ottinger in der Ausstattung am Art Déco. Dieses in seiner geometrischen Suggestivität zugleich faszinierende und abstoßende Bühnenbild erinnert jedoch derart zwingend an Dekorationen aus Inszenierungen des revolutionären sowjetischen Regisseurs Meyerhold, daß damit unfreiwillig einem Argument des Stücks widersprochen wird: daß es nämlich einen Zusammenhang gäbe zwischen einer spezifischen Ästhetik und der Massen- und Technik-Euphorie des Faschismus. Dieses Argument wird nicht nur durch Filmeinblendungen verstärkt, sondern insbesondere dadurch, daß d'Annunzio mit der selbstgefälligen Mimik und Gestik Mussolinis ausgestattet wird.
Dennoch ist es aufregend zu beobachten, wie Ottinger die Chiffren des Bühnenbildes in ihre Kompositionen einbezieht, wie es andererseits deprimierend ist, zu erfahren daß einzelne Zuschauer naserümpfend von einer "Avantgarde von gestern" reden, um den Konservatismus von vorgestern zu fördern. Gewiß, eine Avantgarde, die beständig am gleichen Fleck tritt, gerät irgendwann zur Nachhut. Im konkreten Fall dieser Inszenierung jedoch hatten die Zitate aus der historischen Avantgarde eine Funktion, die zu übersehen schon ein gerüttelt Maß an Bösartigkeit erfordert.
In der Komposition der Bilder, im Arrangement der Figuren im Raum liegt die Stärke der Stuttgarter Realisierung von Jelineks Vorlage. Ottingers optische Zeichen "bedeuten" nicht, sie bekommen ein ästhetisches Eigengewicht. Sprache und Bild werden asynchron verwendet, Ottinger illustriert nicht, sondern verfährt kontrapunktisch. Immer wieder nützt sie den Reizwert musikalischer Signale. Die Schwäche der Inszenierung beruht in einem Mangel an Rhythmus. Mehrfach geraten Bilder atomistisch. Was der Filmemacherin offenbar fehlt, ist der Schnitt. Sie hat keine Entsprechung gefunden, die ihr eine (sei es verknüpfende, sei es kontrastierende) Verbindung der Bilder gestattete. Das Zeitmaß, das von der Sprache her durchaus vorgegeben wäre, wird immer wieder strapaziert.
Ulrike Ottinger hat die Möglichkeiten, die eine Coproduktion bietet, ausgeschöpft und ein hervorragendes Ensemble zusammengeholt. Wer (wie der Schreiber dieser Besprechung) der Meinung war, daß man am Theater, anders als im Film, schwerlich Laien mit professionellen Schauspielern kombinieren könne, musste sich eines Besseren belehren lassen. Veruschka von Lehndorff ist - ähnlich wie Magdalena Montezuma in Ottingers Filmen - ein unerwarteter Glückfall: ihr hölzerner, marionettenhaft eckiger d'Annunzio entspricht geradezu ideal der stilisierten Auffassung der Inszenierung, die sich zur Künstlichkeit von Theater bekennt (und damit der Realität der Kunst näher kommt als jeder angebliche Realismus). Die Clara S. wird von Monika Schwarz in einer perfekten Mischung von typisierter Gestik und Understatement und mit einer selten gewordenen Sprechdisziplin dargestellt. Hanna Köhler und Helga David fanden, jede für sich, einen überzeugenden Grundgestus für Claras an echter Solidarität gehinderte Konkurrentinnen Luisa Baccara und Aélis Mazoyer. Mit geradezu beängstigender Energie und einer ungemein starken physischen Präsenz spielt Mara Tomic Claras Tochter, die Kindfrau Marie. Und als ständige Irritation, in der Mechanik ihrer Bewegungen von einer grotesken Komik, wie man sie auch aus den Filmen Ulrike Ottingers kennt, wandert die Body-Building-Dame Martina Steckenborn als Ballerina Carlotta Barra unaufhörlich quer durch den Bühnenraum.
Theater also, endlich mal wieder. Keine Lebenshilfe. Noch nicht einmal bloß eine Umsetzung dessen, was Elfriede Jelinek im Programmheft zum Stück schreibt, in Dialoge, sondern weit mehr. Man mag das ablehnen, mag es für Schwachsinn halten. Nur eins noch: wer ansonsten, gerade in Stuttgart, immerfort die angebliche Verhunzung von Klassikern anklagte und nun die gleichen schrillen Töne gegen ein zeitgenössisches Stück wendet, setzt sich dem Verdacht aus, daß es ihm nie um die Klassiker ging. Da artikulierte sich vielmehr eine zähe Feindschaft gegen ein Theater, das für sich fordert, was des Theaters ist: das Artifizielle.

Colette Godard: „Clara S“ par Ulrike Ottinger. La femme et l’artiste. Le Monde, 12.07.1983
[…] Sur scène, Ulrike Ottinger prolonge sa vision cinématographique de monde, avec la même gouaille provocante, le même goût du sarcasme, une utilisation semblable des ambigu?tés du kitsch ce tressage particulier de compassion et de dérision. Par là, Ulrike Ottinger s'apparente à l'œuvre de cinéastes comme Schroeter, Rosa von Praunheim ou Robert van Ackeren. Mais elle n'est pas une disciple, elle a des choses à dire sur elle, sur la manière dont elle conçoit sa vie, celle des femmes dans la société occidentale.
De cette société, elle prélève des images, comme des étiquettes, - qui suffisent pour savoir ce que contient le paquet, et qu'elle recolle selon sa logique personelle. Ainsi, elle fabrique des décors de foire clinquants et miséreux, fortement codés, autour de personnages fantasques qui agissent à côté des normes, à côté des mots-perroquets prononcés autant pour se moquer que pour communiquer.
Ulrike Ottinger ne croit pas du tout au réalisme. Réaliste, la pièce d'Elfriede Jelinek ne l'est pas du tout : elle fait se rencontrer Clara Schumann et Gabriele d'Annunzio dans le jardin du poète, grand collectionneur d'avions, de voitures, de statues, de tout, y compris de femmes. Le décor est un toboggan couvert de papier aluminium, la fille de Clara est une Shirley Temple liliputienne en organdi rose, d'Annunzio traîne à sa suite une rubiconde Carmencita, une championne de body-building, lui-même est interprété par Verushka, l'ex-mannequin, l'ex-sybole de femme-objet, travestie en macho-mégalo-facho : tout est là, dans ce parti pris qui accentue celui de la pièce, collage de pastiches littéraires où se juxtaposent la grandiloquence de d'Annunzio, le romantisme de Clara, la trivialité…
Le spectacle jongle avec les styles, les références, guignolade sophistiquée sur un affrontement entre l'homme caricatural (mais cet homme a existé) et la femme qui a sacrifié son talent de pianiste à un époux génial, prisonnier de l'alcool et de la folie. La femme, l'artiste et les autres.

Friedrich Abendroth: Clara in Revision – Elfriede-Jelinek-Premiere in Stuttgart, 14.05.1983 in: Presse
Die bundesdeutsche Kritik hat mit der Uraufführung der "Clara S." von Elfriede Jelinek recht wenig anfangen können. Die Bonner Premiere wurde vor Jahresfrist, gelinde gesagt, zwiespältig aufgenommen. Die in Berlin lebende avantgardistische Filmemacherin Ulrike Ottinger hat jetzt, beraten durch die Dramaturgin Regine Friedrich, ein Regieteam und wohl auch durch die Autorin selbst, eine Neuinszenierung versucht, die nach der Premiere in Stuttgart auch beim Festival in Avignon (auf französisch) gezeigt werden soll. Von den üblichen Buhrufen abgesehen, die Claras Sakrileg mit Schumanns Totenmaske (aus Schaumgummi) empörte, hat das Premierenpublikum durchaus beifällig, wenn auch nicht eben enthusiastisch zugestimmt.
Daß dem Beifall nach mehr als zweieinhalb Stunden pausenloser Spieldauer eine gewisse Erschöpfung anzumerken war, ist dem einzigen wirklichen Fehler der Regie zuzuschreiben: ihrer unnötigen, "serielle" Wiederholungen nicht scheuenden Langatmigkeit, die gegen Ende der Aufführung zur Langeweile wurde. Vielleicht hätte man Elfriede Jelinek auch noch energischer zum Streichen eines Textes zwingen müssen, bei dem der Autorin offensichtlich jeder Satz unentbehrlich schien.
Dieses Stück ist insofern "neues Theater", als es einen um Verständnis bemühten Kritiker zumindest in dieser kongenial erscheinenden Inszenierung zur Umkehr der Reihenfolge seiner Rezeption zwingt. Diese in eine kaum aufzählbare Fülle von Bildelementen umgesetzte Geschichte der stilisierten Clara Schumann muß man zunächst sehen und nochmals sehen. Dann soll man zunächst die Assoziationen wirken, ja wuchern lassen, nach Art eines "Rohrschach-Tests". Sodann kann man versuchen, sie gedanklich zu ordnen. Und lesen soll man den Text, wenn überhaupt, erst ganz am Ende.
Folgt man dieser Methode, die sich eigentlich schon seit Strindbergs "Traumspiel" empfiehlt, dann gerät man in den Bann einer Bildwelt, die trotz ihrer Überraschungseffekte und Schockelemente bei Ulrike Ottinger nichts Zufälliges, nichts Selbstzweckhaftes kennt. Diese "Clara S.", durch die sich gegen alle Chaotik ringsum dank glänzender Sprechkunst durchsetzende Monika Schwarz verkörpert, ist die von einer egozentrischen Männerwelt unterjochte und in Jahren der ertragenden Unterjochung angesäuerte Klavierlehrerin mit dem deutschen Hang "zum Höheren". Sie wird von zwei auf den ersten Blick kontrastierenden Welten bedroht, deren unterirdische Korrespondenz, von der Autorin politisch klar gesehen, in der Bildsprache deutlich gemacht wird.
Die selbstmitleidvolle Autistik des "Nur-Künstlers" Schumann ist die eine Seite der Medaille, die Selbstfeier des von Impotenz bedrohten Sexualathleten d'Annunzio die andere. Die innerlich morsche, morbide Welt der italienischen Reaktion, auf deren Nährboden der Faschismus des komödiantischen Supererotikers Mussolini gedeihen konnte, wird durch Ulrike Ottinger in ein gleichermaßen surreales wie zeitgenössisches Bühnenbild eingebracht. Es ist mit kruden Realitätspartikeln (einer Body-Building-Gymnastin von steriler Makellosigkeit etwa) durchsetzt. Helga David ist da als alternde, laszive Geliebte und Kupplerin d'Annunzios am überzeugendsten. Eine glänzende Idee: der Sexualprotz und Barde des Faschismus ist in makabrem Paradox durch eine Frau, das langbeinige Mannequin Veruschka Gräfin Lehndorff, besetzt.
Eine Vision geht aus der anderen hervor: obszöne Groteske, Gruseltheater im Irrenhaus um den Patienten Schumann (in Gipsmaske durch Reent Reins erschütternd tönend), Dokumentarfilm faschistischer Traumerfüllung: ein Hexensabbat. Gewiß auch aus einer sehr persönlichen Besessenheit der Elfriede Jelinek geboren: Aber welche Dichtung der letzten Jahrhunderte war das nicht, seit Büchner, Strindberg, Beckett?
Ein Glücksfall für die Autorin ist und bleibt die regieführende Partnerin. Man wird künftig über "Clara S." nur nach Kenntnis dieser Inszenierung kompetent sprechen können.

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