Bildnis einer Trinkerin

Deutschland 1979, 35mm, Farbe, 107min

Sie, eine Frau von hoher Schönheit, von antiker Würde und raphaelischem Ebenmaß, eine Frau, geschaffen wie keine andere, Medea, Madonna, Beatrice, lphigenie, Aspasia zu sein, beschloß an einem sonnigen Wintertag La Rotonda zu verlassen…

Sie, eine Frau von hoher Schönheit, von antiker Würde und raphaelischem Ebenmaß, eine Frau, geschaffen wie keine andere, Medea, Madonna, Beatrice, lphigenie, Aspasia zu sein, beschloß an einem sonnigen Wintertag La Rotonda zu verlassen.

Sie löste ein Ticket aller jamais retour Berlin Tegel. Sie wollte ihre Vergangenheit vergessen, vielmehr verlassen, wie ein abbruchreifes Haus. Sie wollte sich mit allen ihren Kräften auf eine Sache konzentrieren, ihre Sache; endlich ihre Bestimmung zu leben war ihr alleiniger Wunsch.

Anhand eines Werbeprospektes, der ihr als Bordlektüre von einer freundlichen Stewardess überreicht worden war, beschloss sie, eine Art Trinkplan aufzustellen. Die ausführliche Beschreibung einer Sightseeing-Tour diente ihr zur Orientierung und bot umfassende Hilfe. Berlin, eine Stadt, in der sie völlig fremd war, schien ihr der rechte Ort, ungestört ihre Passion zu leben. Ihre Passion war zu trinken, leben um zu trinken, trinkend leben, das Leben einer Trinkerin. Jetzt war also der Zeitpunkt gekommen, alles zu verwirklichen.

Fotos zum Film
Besetzung/Stab

Sie

Tabea Blumenschein

Trinkerin vom Zoo

Lutze

Soziale Frage

Magdalena Montezuma

Exakte Statistik

Orpha Termin

Gesunder Menschenverstand

Monika von Cube

Zwerg

Paul Glauer

Sängerin

Nina Hagen

Direktor Willy

Günther Meisner

Chef

Kurt Raab

Transvestit

Volker Spengler

Am Künstlertisch

Eddie Constantine, Ginka Steinwachs, Mercedes Vostell, Wolf Vostell

und

The Destroyers, Drahtseilartisten des Zirkus Renz, Ulrike Ottinger, Raul Giminez, Ila von Hasperg

Sprecherin

Ulrike Ottinger

 

Buch/ Regie/Ausstattung/ Kamera

Ulrike Ottinger

Produktionsleitung

Marianne Gassner

Regieassistenz

Ila von Hasperg

Kameraassistenz

Amadou Seitz

 

Licht

Manfred Bogdahn

Bauten

Raul Gimenez

Kostüme

Tabea Blumenschein

Maske, Garderobe

Detlef Pleschke

Schnitt

Ila von Hasperg

Schnittassistenz

Pamela Page

Ton

Margit Eschenbach

Tonassistenz

Holger Gimpel

Mischung

Hans-Dieter Schwarz

Musik

Peer Raben

Song („Lasset uns trinken“)

Nina Hagen

Mit finanzieller Unterstützung der Filmförderungsanstalt, Berlin und des Kuratorium Junger Deutscher Spielfilm, Berlin

Pressestimmen

Wolf Donner, Der Spiegel, Nr. 48, 1979
[…] Die namenlose Lady rauscht in Tegel ein wie eine Science-fiction Fee im aseptischen Glas-, Beton-und Neon-Märchenland. Ein Koffer bricht auf, ein Getränkewagen geht zu Bruch; ein Zwerg, ein Diebstahl, Polizei, drei hochnäsige Kongreßteilnehmerinnen. Und eine Ansage annonciert:
'Berlin Tegel Realität'. Lapidar registrierte Vorfälle, kleine Desaster, befremdliche, bedrohliche Warnsignale […] Berlin oder die Topographie des Fusels [...]: attraktive Tristesse wie in den schlimmsten Ecken Brooklyns, rührende Promenadenmischung aus Zille und Las Vegas. So liebevoll und erschreckend und wahrhaftig ist diese Stadt im Film noch nicht porträtiert worden […]

Norbert Jochum, DIE ZEIT, 23. 11.1979
[…] In BILDNIS EINER TRINKERIN wandelt sich das Stadtbild in das Bild einer Stadt, in der der Wunsch, sich zu Tode trinken zu wollen, beinahe als Ausdruck des Überlebenswillens erscheint. Berlin ist in diesem Film eine Stadt der Isolation: nicht, banal, der Isolation nach außen; auch nicht, schon weniger banal, der inneren Isolation; sondern Berlin ist die Isolation als Stadt, die zur Stadt verwandelte Einsamkeit.
Die Qualität dieses Films: daß er das nicht behauptet, sondern zeigt, auf verschiedene Arten. Der Film erzählt nicht eine Geschichte, sondern collagiert das Bildnis einer Trinkerin: eben das ist seine Methode. Subversiv verweigert er sich auf den zweiten Blick der Entfaltung einer realen Zeit […]

H.G. Pflaum, Süddeutsche Zeitung, 12.2.1980
[…] ein intellektueller Augenspaß — und zugleich ein Berlin-Film. Wo sonst in einer deutschen Stadt besteht eine ähnlich enge Verbindung zwischen Hypermode und Subkultur? Die Regisseurin ist eine Virtuosin im Erdenken und Umsetzen von Bildern, in der photographischen Konfrontation von Gegensätzen, sie verfügt vor allem über eine durchaus fesselnde manieristische Kraft […]

Bodo Fründt, Stern Nr. 45, 29.10.1981
[…] Die ungewöhnliche Geschichte vom Trinken fängt, obwohl in kühlen, streng arrangierten Bildern erzählt, sehr lebensnahe, detailliert beobachtete Alltagssituationen ein.
Immer bleiben die Szenen des Films in der Schwebe zwischen bitterem Ernst und böser Ironie:
Ein freundliches Lachen ist jeden Augenblick ebenso denkbar wie der jähe Tod. Zu diesem eigentümlichen Eindruck trägt viel der unkonventionell eingesetzte Ton bei, der aus Originalgeräuschen, -dialogen sowie synthetisch erzeugten Klängen besteht und oft gegenläufig zu den Bildern eingesetzt wird …

Karena Niehoff, Der Tagesspiegel, 9.9. 1979
[…] Eine Kunstfigur, eine Frau aus Porzellan (Tabea Blumenschein), mit sehr hohen, nicht mehr wahrnehmbaren Herztönen, zerschlägt sich selbst. Der fremde Ort, an dem sie, die Fremde, dies, ungestört auf ihre Passion konzentriert, zu tun gedenkt, ist Berlin. Sie, ohne Namen, ohne Nationalität, ohne erkennbare Vergangenheit, löst irgendwo [...] ein Flugbillet ,Aller jamais retour' nach Berlin Tegel:
Gleich anfangs ein sonderbar glasiges Berlin, wie es sich dem Wahn aus Schnee und Fieber einer ganz und gar nicht gewöhnlichen Trinkerin darbieten mag: der Flugplatz ist fast leer, die hohen Ansagestimmen kommen aus dem Nichts und weisen ins Nirgendwo, nur noch drei von Kongreß zu Kongreß reisende Damen in Pepita-Reisekleidung sind angekommen: drei Nornen, genannt 'Soziale Frage', 'Exakte Statistik' und 'Gesunder Menschenverstand' […], die fortan, ohne mit einem Menschen je Kontakt aufzunehmen, gleichsam für diese unter Tarnkappen, fast an jedem Schauplatz niederflattern wie weise Raben, daselbst ständig ihre wissenschaftlichen 'Erkenntnisse' über die verschiedenen psychischen Ursachen und Auswirkungen männlicher und weiblicher Trunksucht als leblose Leerformeln auszuspucken; ein Begleitchor, kalt und komisch […]

Zum Weiterlesen

[…] Sie löste ein Ticket aller jamais retour Berlin Tegel. Sie wollte ihre Vergangenheit vergessen, vielmehr verlassen, wie ein abbruchreifes Haus. Sie wollte sich mit allen ihren Kräften auf eine Sache konzentrieren, ihre Sache; endlich ihrer Bestimmung zu leben war ihr alleiniger Wunsch.
Anhand eines Werbeprospektes, der ihr als Bordlektüre von einer freundlichen Stewardess überreicht worden war, beschloß sie, eine Art Trinkplan aufzustellen. Die ausführliche Beschreibung einer Sightseeing-Tour diente ihr zur Orientierung und bot umfassende Hilfe. Berlin, eine Stadt, in der sie völlig fremd war, schien ihr der rechte Ort, ungestört ihrer Passion zu leben. Ihre Passion war zu trinken, leben um zu trinken, trinkend leben, das Leben einer Trinkerin. Jetzt war also der Zeitpunkt gekommen, alles zu verwirklichen.
Einleitungstext, Drehbuchauszug


Ulrike Ottinger: masculin feminin

Trigon 79

Künstlerhaus und Neue Galerie Graz

Kulturreferat der Steiermärkischen Landesregierung

neue galerie am Landesmuseum Johanneum
biennale 79

Zum Film Bildnis einer Trinkerin: Psychogramm zweier ungewöhnlicher aber auch extrem unterschiedlicher Frauen.
Die eine, reich, exzentrisch, ihre Gefühle starr und maskenhaft verbergend, trinkt sich bewußt zu Tode, die andere, arm mit festen Plätzen, einschlägiger Erfahrung mit Trinkgeldbeschaffung, trinkt sich unbewußter zu Tode. Sachverständig kommentieren die drei Damen „soziale Fragen“, „gesunder Menschenverstand“, „exakte Statistik“, die die Rolle von Schicksalsgöttinnen in einer verwalteten, technologisierten, genormten, von Massenmedien geprägten Welt spielen.
Hintergrund ist Berlin, erschlossen in einer grotesken Sightseeing Tour (Trinker-Geographie) und ergänzt durch authentische Beiträge von Menschen, die hier Leben oder zu Gast sind: Rocksänger, Schriftsteller, Künstler, Taxifahrer.
Zu den Personen:
Zwei Trinkerinnen aus extrem unterschiedlichen sozialen Milieus - die eine kauft ihr Flugticket im Office der Air France des 16. arrondissements, die andere verbringt ihre Nächte im Bahnhof Zoo. Die eine also mehr „barfüssige Gräfin“, die andere mehr „Nächte der Cabiria“. Die eine ist reich und trinkt sich bewußt zu Tode, sie ist ein Fall, der in der Statistik nicht erscheint, weil entweder zu Hause unter Valium gehalten oder unter Verschluss in einer Privatklinik, die andere ist arm und trinkt sich unbewußt zu Tode, sie erscheint in der genormten Statistik als Typ der haltlosen Trinkerin, die immer wieder betrunken aufgegriffen wird. Die eine sucht die Anonymität, die sie als Schutz begreift, und verläßt diese nicht bis zu ihrem Tode, die andere ist eine stadtbekannte Trinkerin, Typ „zum Straßenbild gehörend“, mit festen Plätzen, Gewohnheiten, einschlägiger Erfahrung in Trinkgeldbeschaffung und der kleinen Chance, in ihrem Milieu etwas länger zu überleben. Die eine ist eine unbekannte Trinkerin und wird im Buch mit sie bezeichnet, die andere ist eine stadtbekannte Trinkerin und wird im Buch Trinkerin vom Zoo genannt.
Diese beiden Trinkerinnen versuchen sich im Verlauf der Geschichte – die in Stationen unterteilt ist – kennenzulernen. Die eine folgt der anderen wie ein Schatten. Sie können zueinander nicht kommen, nicht weil das soziale Milieugefälle zu tief ist – das sich im Verlauf der Geschichte übrigens fast aufhebt – sondern weil der Alkohol ihre Kommunikationsversuche immer wieder verhindert oder gar an ihre Stelle tritt.
Ein Film, der seinen Ablauf mit der dem perfekten Melodrama eigenen Selbstverständlichkeit nimmt, nur unterbrochen durch die drei von Kongress zu Kongress jettenden Damen.

1. Gesunder Menschenverstand, 2. Soziale Frage, 3. Exakte Statistik, die die Rolle von Schicksalsgöttinnen in einer verwalteten, technologisierten, genormten, von Massenmedien geprägten Emwelt – unserer Welt – spielen.


Anmerkungen zur formalen Ästhetik:

Das exzessive, eigentlich normale Mitteilungsbedürfnis, das sich an falschen Plätzen artikuliert und dadurch abgewiesen wird – gegen Glaswände rennt, das Mitteilungsbedürfnis der Trinkerinnen soll in Einstellungen z. B. durch Fensterscheiben, durch das Kartenverkaufsfenster am Bahnhof Zoo, durch das Glas der Schwingtür im casino etc. verdeutlicht werden. Eine totale Isolation – durch die Scheibe – eine sich öfter wiederholende Scene, wie sie krampfhaft versucht, Leute anzusprechen, sie sogar festhält, wenn sie weitergehen wollen, und die sich schließlich brutal losreißen. Man sieht sie manchmal sprechen, sie hat Schwierigkeiten zu artikulieren, sie wird zurückgestoßen, sie versucht es wieder, immer wieder. Diese Einstellung z. B. sollte ohne Ton bleiben, isoliert durch die Glasscheibe, um den Eindruck der Isolation zu verstärken.
Sie, eine Frau von hoher Schönheit, von antiker Würde und raphaelischem Ebenmaß, eine Frau, geschaffen wie keine andere, Medea, Madonna, Beatrice, Iphigenie, Aspasia zu sein, betrat an einem regnerischen Novembertag das Office der Air France im 16. arrondissement, um ein Ticket – aller Jamais Retour – Berlin-Tegel zu lösen.
Sie wollte ihre vergangenheit vergessen, vielmehr verlassen, wie ein abbruchreifes Haus. Sie wollte sich mit allen ihren Kräften auf eine Sache konzentrieren; ihre Sache, endlich ihrer Bestimmung zu leben, war ihr alleiniger Wunsch.
Berlin, eine Stadt, in der sie völlig fremd war, schien ihr der rechte Ort, ungestört ihrer Passion zu leben. Ihre Passion war zu trinken – Leben um zu Trinken – trinkend leben – das leben einer Trinkerin – Jetzt war also der Zeitpunkt gekommen, alles zu verwirklichen
Berlin Tegel - Realität
Berlin Tegel - bittere Realität

Auszug aus dem Einleitungstext zu „Bildnis einer Trinkerin“


Wie zeigt man eine solche Figur, die sich bewußt zu Tode trinkt und Schutz nur noch von ihrer eigenen Anonymität, dem Auslöschen ihrer eigenen Person erwartet?
Ich bat meine Darstellerin Tabea Blumenschein, eine von paranoider angst ausgelöste Verteidigungsrede des Trinkens oder Betrunken seins an ihr eigenes Spiegelbild zu richten und danach den Inhalt ihres vollen Weinglases gegen sich selbst in der Spiegelung zu schleudern. Ich beobachtete sie dabei durch die Kamera und fixierte Momente, die mir besonders gut gefielen. Sie wiederholte den Vorgang des Glasausschüttens, damit ich Gelegenheit hatte, mehrere Versionen des Schüttens zu fotografieren. Spiegel, Spiegelungen, Glas, Wasser, Verwischungen, Gläserne Trennwände sollen oft vorkommen, um Isolation und das sich-selbst-fremd-sein, verfremdet sein mit visuellen Mitteln zu zeigen. Einfache Bewegungsabläufe wie der eben beschriebene des Glasausschüttens wirken, in einzelne Bilder zerlegt und in der Bewegung eingefroren, ungleich dramatischer, und in manchen Fällen entscheide ich mich auch im Film für das „einfrieren“.
Ein foto kann man solange betrachten, wie man Lust hat. Im Film dagegen bewegen sich die einzelnen Bilder so rasch, daß man keine Gelegenheit hat, sich über die Ursache des Gefallens oder Nicht-Gefallens klar zu werden. Nur die Bewegung zählt. Dies wird einem deutlich zu Bewusstsein gebracht, wenn man sich erlaubt, dem durch das tägliche Fernsehtraining mit festen Sehgewohnheiten ausgestatteten Zuschauer ein Bild länger als gewohnt zu zeigen. Er wird es als Zumutung empfinden. „Ich möchte gerne, daß sie dieses Bild solange sehen können“, wäre meine einfache Antwort.
Das feststehende Bild im Film oder die Fotografie ist für mich der Augenblick der Ruhe und des Nachdenkens.

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