Freak Orlando
Eine Irrtümer, Inkompetenz, Machthunger, Angst, Wahnsinn, Grausamkeit und Alltag umfassende ‚Histoire du monde‘ am Beispiel der Freaks von den Anfängen bis heute als Kleines Welttheater in fünf Episoden erzählt von Ulrike Ottinger.
1. Episode erzählt, wie Orlanda Zyklopa als Attraktion mit ihren sieben Zwergenschustern in der Schnellsohlerei des Kaufhauses von Freak City den Amboß schlägt, von Herbert Zeus, dem Geschäftsführer, der aus dem Hause gejagt wird, als Königin der sieben Zwergathleten das trojanische Pferd besteigt, ablehnt, die Nachfolgerin des Säulenheiligen zu werden, und deshalb zu Tode kommt.
2. Episode erzählt, wie Orlando Orlanda alias Orlanda Zyklopa auf den Stufen der Basilika als Wundergeburt das Licht der mittelalterlichen Welt erblickt und mit dem lieblichen zweistimmigen Gesang ihres Doppelkopfes die Umwelt zu verzaubern vermag, jedoch nicht verhindern kann, daß Flagellanten zwei Akrobaten gefangen nehmen und sie inmitten ihres Flagellantenzuges aus der Stadt führen, weshalb sie gemeinsam mit der berühmten Zwergenmalerin Galli den Flagellanten folgt und so zum Kloster der heiligen Bartfrau Wilgeforte gelangt, dort in dem großen Kauf- und Lagerhaus neu eingekleidet und von Galli portraitiert eine erstaunliche Verwandlung erfährt.
3. Episode erzählt, wie Orlando Capricho alias Orlando Orlanda alias Orlanda Zyklopa erkennen muß, auf das mit schöner Stimme vorgetragene Sonderreiseangebot des Warenhauses hereingefallen zu sein, in ihrem eigenen Spiegelbild das Mißtrauen erlernt, im Spanien des ausgehenden 18. Jahrhunderts den Häschern der Inquisition in die Hände fällt, allerlei Gefahren und Abenteuer zu bestehen hat, mit knapper Not der Einweisung in ein Korrektionshaus entgeht und am Ende zusammen mit allerlei fahrend Volk und rechter Arbeit Feind in die neue Welt deportiert wird, was Galli el Primo getreu den Begebenheiten dokumentiert.
4. Episode erzählt, wie Herr Orlando alias Orlando Capricho alias Orlando Orlanda alias Orlanda Zyklopa vor den Toren des psychiatrischen Landeskrankenhauses von den Artisten einer im Lande umhervagabundierenden Side-Show als Mitglied aufgenommen wird, sich alsbald in einen Teil der Siamesischen Zwillinge, genannt Lena, verliebt, was der andere Teil, genannt Leni, nicht hinnehmen will, darob Herr Orlando in solche Konfusionen und Verstrickungen gerät, daß er Leni ersticht, was notwendigerweise auch seine geliebte Lena tötet und den Herrn Prinzipal der Truppe zwingt, Herrn Orlando einem alten Artistenbrauche gemäß dem Tode zu überantworten.
5. Episode erzählt, wie Frau Orlando wegen ihrer Vorlieben genannt Freak Orlando, alias Herr Orlando alias Orlando Capricho alias Orlando Orlanda alias Orlanda Zyklopa sich als Entertainerin verdingt und zusammen mit vier Bunnies durch Europa tingelt, als Attraktion bei Eröffnungen von Einkaufszentren, Familienfeiern und ähnlichem sehr begehrt ist, schließlich auch ein Engagement in Italien auf einem alljährlich stattfindenden Fest der Häßlichen annimmt, dort den Gewinner krönt und einen Ehrenpokal mit der Aufschrift: "Bei den Lahmen ist das Hinken Sitte" überreicht und uns am Ende des Festes erzählt, daß die Geschichte aus ist.
Orlando als Pilger Orlanda Zyklopa Orlando Capricho Orlando Orlanda Herr Orlando Entertainerin Frau Orlando |
Magdalena Montezuma |
Helena Müller als Lebensbaumgöttin Kaufhausansagerin Mutter der Wundergeburt Helena-Maya Siamesischer Zwilling Lena Bunny Helena |
Delphine Seyrig |
Herbert Zeus als Kaufhaus-Direktor Priester Gladiator Chefarzt der Psychiatrie Vertreter für Psychopharmaka |
Albert Heins |
Zwei Tänzer als Kaufhausdetektive Akrobaten Mönche Zerberusse Vogelmenschen Krankenschwestern |
Claude Pantoja und Hiro Uchiyama |
Chronistin | Galli |
Säulenheiliger | Eddie Constantine |
Heilige Wilgeforte | Else Nabu |
Frau ohne Unterleib Der linke Kopf |
Therese Zemp |
Reporterin | Franca Magnani |
Siamesischer Zwilling Leni Bunny Jackie |
Jackie Raynal |
Kleine Menschen | Maria Buchelt Paul Glauer Alfred and Luzia Raupach Monika Ullemayer Dirk Zalm |
Zwölf Lederboys | Luc Alexander, Jochen Benner, Klaus Dechert, Paolo Espinoza, Gerhard Hoffmann, Dan Van Husen, Reinhard v.d. Marwitz, Jörg Matthey, Stefan Menche, Konrad Regber, Peter Schmittinger, Emile Snystheuvel |
Vier Frauen | Barbara Beutler Erika Rabau Ula Stöckl Ellen Umlauf |
Zwei Bunnies | Jill und Vivian Lucas |
Frau Prinzipalin | Beate Kopp |
Herr Prinzipal | Günther Notthoff |
Bartfrau mit Akkordeon | Waltraud Klotz |
Büßerin | Dorothea Moritz |
Frau Gorgo | Eva Ebner |
Riesin | Renate Pump |
Haarwunder | Emma Henze |
und | Alf Bold, Peter Gente, Wieland Speck, Angela Reinhard, Wilhelm Siebert, Walter Busch, Sarah Blum, Klaus Knittel, Petra Kray |
Buch Regie Ausstattung Kamera |
Ulrike Ottinger |
Regieassistenz | Eva Ebner, Bettina Woernle |
Kameraassistenz | Martin Gressmann |
Musik | Wilhelm D. Siebert |
Ton | Margit Eschenbach |
Schnitt | Dört Völz |
Kostüm | Jorge Jara |
Kostümherstellung | Ole Kofood, Barbara Czub |
Maske | Ursula Drews, Karin Seebach-Lück |
Requisite | Barbara Utecht, Ursula Knispel |
Bühnenmaler | Thomas Lange |
Herstellungsleitung | Renée Gundelach |
Produktionsleitung | Harald Muchametow |
Mit finanzieller Unterstützung der Filmförderungsanstalt, Berlin und des Bundesministerium des Inneren, Bonn.
Frieda Grafe, Süddeutsche Zeitung, 7/8.11.1981
Der Oberfreak, der Titelfreak ist dem Orlando aus Virginia Woolfs Roman nachempfunden, der den alten Traum vom androgynen Menschen realisiert; und wie Orlando im Roman ist er der Zeit, der Vergänglichkeit nicht unterworfen, das allein schon macht ihn zu einem Monster an Erfahrung [...]. Das Kaufhaus ist in FREAK ORLANDO der Tempel der Versprechungen, der Sammelplatz der Gläubigen, wo nach bestimmten Liturgien öffentliches Leben sich regelt. Da werden nicht nur die Normen zementiert, sondern auch das Verhältnis zur Vergangenheit ausgebeutet. Erst das Allerneueste, verkuppelt mit dem guten Alten, ergibt das richtige Sonderangebot [...]. Das Kino verwirklicht die Collagenträume des Surrealismus – ohne Kino wären die Surrealisten nie auf ihre revolutionären Metamorphosen gekommen.
Für Ulrike Ottingers Kinokonzeption ist entscheidend, daß Film alle Vorstellungen, alle Wünsche, Ängste, Träume mit der Aura des Realen ausstatten kann. Man kann mit dem Kino beweisen, um es bildlich auszudrücken, daß der Mythos eine Dame ohne Unterleib ist.
Gertrud Koch, Frankfurter Rundschau, 14.11.1981
Die Dimension der emotionalen Aufladung der Bilder, die über das Verwundern hinausgeht, kommt dem Film vor allem über das Spiel Delphine Seyrigs zu, die neben Magdalena Montezuma als Orlanda/Orlando die wechselnden Episodenrollen durchläuft von der Lebensbaumgöttin, Mutter der doppelköpfigen Wundergeburt, siamesischer Zwillingshälfte, Kaufhausansagerin bis zum Bunny beim ‚Wettbewerb der Häßlichen‘. Während Magdalena Montezuma die Eiseskälte der Kunstfigur virtuos verbreitet, spielt Delphine Seyrig ihre Parts durchaus mit psychischem Profil, vermenschlicht mit fIatterndem Lächeln, zarten Blicken, sanftem Timbre das Künstliche zur weicheren Kontur der Person.