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Katharina Sykora: Ikonen des Abwesenden

Auf unseren Reise-Etappen in Bulgarien begegnen uns mehr als in anderen Ländern Südosteuropas zwei Arten Phantom-Bilder. Von den Dörfern und Städten des Balkangebirges bis zu den Zentren des internationalen Tourismus an der Schwarzmeerküste begleiten uns auf unzähligen Häuserwänden, an Telefonzellen und Litfasssäulen die Gesichter Verstorbener. Sind unsere Todesanzeigen auf die letzten Seiten der Tages- und Wochenzeitungen verbannt und wecken dort nur kurze Zeit unsere Erinnerung an Verwandte oder Freunde, aber auch unsere Phantasien über Unbekannte, so leben die Toten hier ein anderes Leben. Einzeln oder in dichten Gruppen sind sie mit Name, Lebensdaten und ihrem fotografischen Konterfei so lange Teil des Kommens und Gehens auf den öffentlichen Plätzen, bis die Sommerhitze oder der Regen, die trockene Salzluft am Meer oder der Frost der Berge sie ein zweites Mal altern und schließlich ganz verwittern lässt. Die in den schwarzweiß gerahmten Fotos still gelegte physische Präsenz der Toten und besonders ihr direkter Blick aus dem Bild ziehen sich nur langsam zurück. Der sichtbare Prozess ihres Einswerdens mit einer bröckeligen Kalkwand hier oder einem rostigen Briefkasten dort ist Sinn und Zweck ihres sekundären Daseins. Das Verschwinden der Totenbilder unter den Augen der Öffentlichkeit integriert die fotografisch fixierten Phantome wieder in den Fluss gelebter Zeit. Sie werden zu Agenten eines Übergangsritus, durch den die für immer Abwesenden Eingang finden in die lebendige Kollektiverinnerung.
Anders als in Südfrankreich, Spanien oder Italien jedoch zeugt die Dichte, mit der die Todesanzeigen in unseren Reisezielen Braknitza, Baltschik oder Sosopol die öffentlichen Präsentationsflächen mit ihren schwarzweißen Schachbrettmustern überziehen, von einer spezifischen ikonischen Haltung zum Vergangenen und von einem drastischen Strukturwandel in der jüngsten Gegenwart. In einem Land mit einer der ältesten Traditionen der Ikonenkunst sind die Madonnen- und Heiligenbilder byzantinischer Prägung neuerdings vielerorts restauriert und wieder zugänglich gemacht worden. Ihre Verehrung knüpft an religiös fundierte nationale Identitätskonzepte an, die auf die Zeit nach der Türkenherrschaft und vor dem Sozialismus verweisen. Kern der Ikonenmalerei und ihrer rituellen Betrachtung ist der unbedingte Glaube an die Vergegenwärtigung des Jenseits in der materiellen Präsenz des Bildes. Der Kuss auf die Madonnenikone ist heilversprechende körperliche Berührung der Gottesmutter selbst. Die Gegenwart der Verstorbenen in ihren fotografischen Totenbildern hat so in den bulgarischen Dörfern und Städten vielleicht eine unmittelbarere, physischere Qualität als in Ländern des römisch-katholischen Glaubens, in denen das Bild als Abbild und nicht als göttliche Verkörperung betrachtet wird. Die Totenzettel stehen so magisch für die reale Anwesenheit von Abwesenden, allerdings in einer signifikant veränderten demografischen Situation: Viele Dörfer und Kleinstädte Bulgariens haben sich in den letzten Jahren von ihren jungen Bewohnerinnen und Bewohnern geleert. Diese fliehen das karge Auskommen in der teils noch kollektivierten, teils reprivatisierten Landwirtschaft, finden aber aufgrund der partiell zusammengebrochenen Industrie und wenigen Gewerbe- und Dienstleistungsunternehmen auch andernorts keine Arbeit. So entstehen Geisterstädte und -dörfer, in denen nur die alten Menschen zurückgeblieben sind. Die vielen Totenzettel zeugen daher auch von einer Überalterung der ländlichen Ortschaften und der Abwesenheit einer jungen Generation, die zuvor Kontinuität verbürgt hat. Die ikonische Präsenz der Toten geht damit ins Leere. Sie findet ohne Publikum statt, das sie in sein kollektives Gedächtnis aufnimmt. So entstehen topografische und historische Blindstellen in einer Gesellschaft.
Bulgarien besitzt noch eine zweite Form von Phantom-Bildern. Sie sind zumeist plastischer Natur und ungleich monumentaler als die Totenzettel. In den Zentren und an den Peripherien der kleinsten Dörfer und der mittleren Städte, am Rande abgeernteter Felder und an exponierten Landschaftsmarken: Überall sehen wir in Stein, Bronze oder Beton gefasste Helden und Heldinnen des Sozialismus stehen, liegen, springen und marschieren. Oder das eherne Symbol bulgarisch-sowjetischer Freundschaft empfängt uns und alle anderen Besucher der Hafenstadt Varna am Schwarzen Meer als konstruktvistisch anmutendes, abstraktes Mahnmal oder als überdimensioniertes Soldatenfries. Historisch ist Bulgarien Russland und der Sowjetunion mehrfach eng verbunden: zunächst durch die Niederschlagung der türkischen Herrschaft und dann durch die Befreiung von der nationalsozialistischen Unterdrückung. SU-orientierter Sozialismus und an der "Wiedergeburtsbewegung" des letzten Jahrhunderts orientierter Nationalismus bilden den Fundus, dem die Bildmotive, die plastische Formensprache und die oft gigantische Monumentalität der Skulpturen entlehnt sind. Ihre Botschaft ist ganz auf die Beschwörung einer humanen Gegenwart und einer heroischen Zukunft gerichtet. Was passiert aber, wenn die angeblich paradiesischen Zustände und groß angelegten Visionen plötzlich passé sind? Die Monumente beginnen zu altern. Rasch und radikal werden sie zu Totenmasken einer zerfallenen Gesellschaftsutopie und -praxis. Das Verhältnis zu ihrer Umgebung wird dabei immer gegensätzlicher, anachronistischer, absurder. Ball schwingende Athletinnen stehen verloren vor den verschlossenen Toren stillgelegter Kombinate, ineinander verkantete Metallflaggen Bulgariens und der ehemaligen SU rosten auf einem versteppten Niemandsland zwischen Autobahnauffahrten, die steinerne Mutter- und Kind-Skulptur fristet ihr Dasein am Rande der Beton-Strandpromenade zwischen klappernder Softeismaschine und Schwimmreifenverkaufsstand. Und das überdimensionale bronzene Menschenpaar blickt – eingekeilt zwischen staubigen Riesensilos und Hafenmole Baltschiks, an der nur wenige rostige Frachtschiffe vor Anker liegen – nicht in die heroische Zukunft, sondern auf die banale Gegenwart eines kleinen Fischstandes und eines von halbverhungerten Hunden bevölkerten Parkplatzes. Die auf Ewigkeit angelegte eherne Materialität all dieser Monumente macht sie angesichts der sich überstürzenden Veränderungen und Verwerfungen um sie herum zu Ikonen eines Abwesenden, von dem niemand mehr Notiz nehmen will. Sie sind Repräsentanten eines absolut Vergangenen, das nur noch einen akuten Phantomschmerz hervorruft.