Einleitung
In der Transsibirischen Eisenbahn treffen sich vier völlig verschiedene Frauen, die diese Reise mit großen Erwartungen angetreten haben. Sie begegnen drei exzentrischen Herren und lassen sich von einer georgischen Damencombo unterhalten. Die Damen steigen um auf die Transmongolische, die von einer geheimnisvollen Prinzessin und ihren Reiterinnen überfallen wird. Sie werden entführt, ziehen mit einer Nomadenkarawane über die endlosen Steppen, während sie mit archaischen Ritualen und jahrhundertealten Geheimnissen vertraut gemacht werden. Am Ende treffen sie sich – mit einer Ausnahme – in der Transmongolischen Eisenbahn wieder.
Der Film schildert, was geschieht, wenn zwei extrem unterschiedliche Kulturen einander begegnen. Die Geschichte beginnt in der Transsibirischen Eisenbahn, die seit 100 Jahren unsere europäische Zivilisation durch die rohe Wildnis der sibirischen Tundra und Taiga transportiert: Ein rollendes Miniaturmuseum, vollgestopft mit westlichem Luxus.
Man reiste mit Ballsälen und Tanzorchestern, mit Kirchen-Waggon und eingebauter Orgel. Luxus-Suiten und Salonwagen, Bibliotheks-, Speise- und Küchen-Waggons beherbergten alles, was die große Gesellschaft damals von einem First-Class-Hotel erwartete. Der große Mythos der Transsibirischen beruht jedoch nicht nur auf der Geschichte der gekrönten Häupter und des ewig reisenden Corps diplomatique. Es gab auch die Holzbänke der 3. Klasse-Abteile, auf denen Jäger, Abenteurer, Soldaten, arme Bauern und vor Pogromen fliehende jüdische Familien dicht gedrängt nebeneinander saßen. In dieser Atmosphäre begegnen sich die vier Protagonistinnen:
LADY WINDERMERE, eine elegante englische Dame, Privatgelehrte und Ethnologin im old-fashioned style (Delphine Seyrig).
FANNY ZIEGFELD, ein unkomplizierter, leicht frivoler amerikanischer Musical-Star auf Vergnügungsreise (Gillian Scalici).
GIOVANNA, eine junge, fast noch kindliche Abenteuerreisende mit Rucksack und Walkman (Inès Sastre).
Im Speisewagen, in dem eine georgische DAMEN-COMBO KALINKA SISTERS für Unterhaltung sorgt, lernen sich die Frauen kennen und treffen auf drei exzentrische Herren (Else Nabu, Jacinta, Sevimbike Elibay).
ALEXANDER BORIS NIKOLAJ NIKOLAJEWITSCH MURAWJEW, ein russischer Offizier stolz auf seine französisch-russische Herkunft auf dem Weg zu seinem Außenposten in der Wildnis (Nougzar Sharia)
begleitet von seinem Adjutanten
ALJOSCHA, der unter dem Abbruch seiner klassischen Ballettausbildung am Bolschoi-Theater leidet (Christoph Eichhorn).
MICKEY KATZ, ein voluminöser, hypochondrischer und sehr eloquenter Tenor des jüdisch-amerikanischen Musicals, der den ausgefallendsten Köstlichkeiten der russischen Küche huldigt (Peter Kern)
Wie zu erwarten, ergeben sich aus dem Zusammentreffen all dieser Persönlichkeiten die ersten – nicht allein musikalischen – Höhepunkte der Handlung.
An der Grenze zur Mongolei trennen sich die Wege dieser zufällig zusammengewürfelten Gesellschaft: Die Damen steigen in die Transmongolische um, die nach kurzer Fahrt von wilden mongolischen Reiterinnen gestoppt wird. Es ist so, als wären sie plötzlich in eine andere Zeit versetzt. Nicht durch eine Zeitmaschine, sondern durch eine noch existierende archaische Lebensform – die der mongolischen Halbnomaden – werden sie auf dramatische Weise mit einer ihnen fremden Kultur konfrontiert. Durch ihre bisherigen Gewohnheiten und Vorurteile sind Mißverständnisse und Faux-Pas vorprogrammiert, die viel Anlaß zu Heiterkeit geben, aber auch zu bedrohlichen Situationen. Die sieben westlichen Damen werden von einer geheimnisvollen mongolischen Prinzessin und ihren Begleiterinnen entführt und ziehen mit ihrer Karawane durch die überwältigende Landschaft der Inneren Mongolei ins Ungewisse. Auf ihrem Wege sehen sie heilige Bäume, uralte Felsmalereien, eine reisende Stadt und begegnen riesigen Herden von Wildpferden und Kamelen. Sie teilen das Leben der Nomaden, wohnen in Filzzelten, den Jurten, ernähren sich von fettem Hammelfleisch und Stutenmilch, erleben geheime Jagdzeremonien und nehmen schießlich an einem großen Fest teil, bei dem Rhapsoden, Pferdegeiger und Ringer auftreten, spannungsreiche Wettkämpfe und Maskentänze stattfinden.
Die westlichen Frauen scheinen schließlich auf unerwartete und gegensätzliche Weise von ihren berauschenden und beunruhigenden Erlebnissen fortgerissen zu werden. Am Ende des Films aber finden sich alle – mit einer Ausnahme – in der transmongolischen Eisenbahn wieder.
Aus dem Filmtagebuch
13.07.1988
Hohhote: Frühmorgens Ansicht der Requisiten. Zunächst werden mir Papprequisiten einer Dschingis – Khan – Fernsehserie angeboten. Auf die Gefahr hin, nichts anderes finden zu können, lehne ich ab. Echte, alte Kostüme und Schmuck sind nur über persönliche Kontakte zu Familien weit draußen im Grasland zu bekommen. Ich hoffe auf die Mitarbeit der Einheimischen. Gebetsfahnen sind auf scheußlichem Kunststoff gedruckt. Ich bestehe auf dünnem mullartigem Material. Der Requisiteur ist ein ehemaliger lamaistischer Mönch und versteht sofort, was ich meine.
15.07.1988
Ankunft in Xi Wu Zhu Mu Qi. Wir haben weder Holz, noch Eisen, auch keine alten Karren, Räder oder andere Holzteile, wie vor vier Monaten bestellt und versprochen. Auch die schönen, alten Jurten und Filzmatten, die ich damals ausgesucht hatte, sind verschwunden. Das schwere Aggregat ist nicht angekommen. Es kommt schlimmer: die lokalen Behörden verbieten uns das Verlassen des Dörfchens und sogar das Verlassen des Gästehauses, in dem wir untergebracht sind.
Wir warten.
16.07.1988
Wir haben jetzt ein Auto, aber kein Benzin.
17.07.1988
Drehort Altangolo: Das Gras ist nicht so hoch, wie erwartet. Dafür blüht alles. Tausende Edelweiß und der Fluß ist niedrig. (Im Frühjahr waren wir beim Überqueren mit dem Pferdekarren auf dem Eis eingebrochen). Falls nicht enorme Regenfälle auftreten, sollte das Überqueren kein Problem sein.
Drei große, weiße Jurten stehen fast an der Stelle, die ich für das Sommerlager der Prinzessin ausgesucht hatte. Wir werden auf's Gastfreundlichste in der Jurte empfangen und mit Milchschnaps und fettem Hammel bewirtet. In der Jurte ist es angenehm kühl, denn die Filzwände sind ca. 40 cm vom Boden aufwärts gerollt, so daß ein kühler Lufthauch hindurchweht.
Unser mongolischer Begleiter trinkt viele Schalen Milchschnaps. Wir müssen ihn zurücklassen und reisen mit Xu Re Huar, unserer Hauptdarstellerin, weiter, um die Nachbarn in den weitvestreuten Jurten aufzusuchen und für die Mitarbeit zu gewinnen. Nochmals Altangolo ganz genau abgelaufen und Kamerapunkte fixiert.
Ich finde den Obo (Opferstätte aus Steinen aufgeschichtet) sofort wieder. Er steht auf einem großen, runden Fels, einem Naturaltar, an dessen Fuß eine Quelle aus dem Wurzelwerk eines alten Baumes fließt, und ist im Sommer noch schöner als im Winter. Ich beschließe, an diesem mythischen Ort zu drehen.
Schon wieder Hausarrest. Schwer zu durchschauen, wie die Verhältnisse sind. Offizieller Besuch wird zum Abendessen erwartet. Zuvor halte ich vor roter Fahne im Parteizimmer eine Einführungsrede zum Projekt, die sehr freundlich aufgenommen wird. Ich trinke mit allen dreimal. Wir essen Hammel, der kurz vor dem Mund mit scharfem Messer vom Knochen geschnitten wird. Die beiden mongolischen Bannerchefs, die rechts und links von mir sitzen, schneiden die besten, d. h. fettesten Stücke für mich ab. Viele Tischreden zur Freundschaft und Zusammenarbeit werden gehalten. Ein sehr fröhliches Fest, das mit einem Familienfoto abgerundet wird.
INTERVIEW MIT ULRIKE OTTINGER
Patricia Wiedenhöft
1. Zunächst, wie ist es zu dem Titel Ihres neuen Films gekommen?
JOHANNA D'ARC OF MONGOLIA - das ist der Name einer Legende, die der Film auf vielfältige Weise hören und sehen läßt. Ich gehe gerne von großen, emotional überhöhten Namen aus, um das, was man schon zu kennen meint, in neue und überraschende Zusammenhänge zu bringen. Denn zumeist ist es nicht so sehr das ganz und gar Fremde, sondern die Entsprechungen und Nähen, die plötzlich und in andere Gegenden versetzt eine unerhörte Fremdheit auslösen können. Von daher versteht sich auch die Sprachmischung dieses Namens, die auf die Vielsprachigkeit der Kulturen hinweist und sich nicht mehr vereinnahmen läßt. Im Film kommt das in den verschiedenen Akzenten und Idiomen der Passagiere der transsibirischen Eisenbahn zum Ausdruck und macht auch sonst oft genug deutlich, daß die Sache der Transskription ein Verwirrspiel ist, die noch die besten Absichten ins Schleudern geraten läßt. Jeanne d'Arc ist natürlich auch der Mythos von der Heldenjungfrau und da in mongolischen Heldenepen auch Frauen als Heldenmädchen besungen werden, war eine inhaltliche Möglichkeit der Anknüpfung gegeben, mit der eine Geschichte anfangen kann. Die von der Giovanna D'Arco des Films z.B., die in der Transsibirischen aufbricht, in diesem Zug, der auch ein Kulturtransport ist und der von Mongolinnen überfallen wird, die ihrerseits ein nomadisierendes Volk sind, und so gerät alles in Bewegung. Was mich dabei interessiert, ist aber nicht nur der Fortgang dieser Geschichte, sondern ebenso alle diese anderen Geschichten, die sich ja im Verlauf dieser Geschichte einstellen, die ja schließlich die Inszenierung der Begegnung mit dem Fremden ist, das auf seine Weise und oft genug unvorhersehbar in den Fortgang der Handlung eingreift.
2. Sie haben als erste ausländische Filmemacherin die Erlaubnis erhalten, in der Mongolei zu drehen, einer uns weitgehend unbekannten Ecke der Welt. Schon die Vorbereitungen zu diesem Film klingen abenteuerlich. Können Sie uns ein bißchen über die Erfahrungen und Abenteuer bei den Dreharbeiten selbst erzählen?
Die Mongolei ist immer schon der Ort einer besonderen Sehnsucht für mich gewesen. Ich habe ihn nicht nur gesucht, sondern immer wieder recherchiert. Imaginär habe ich mich ihm bereits in meinem Film MADAME X genähert, dokumentarisch mit CHINA. DIE KÜNSTE - DER ALLTAG. Als ich endlich dorthin kam, fand ich im alten Stammgebiet der Ordosmongolen eine Landschaft vor, die wie in den Goldrauschzeiten Amerikas durchwühlt und ausgebeutet wurde. Wilde Claims waren abgesteckt, die Kohle wurde ohne weitere Hilfsmittel abgetragen und an Ort und Stelle verkokt. Die Erde war aufgerissen und verwundet. Es stank, qualmte, brannte und ich fühlte mich ersteinmal wie auf einer Wanderung in Dantes Inferno. Die Mongolen, deren Stiefelspitzen nach oben weisen, um die Erde nicht zu verletzen, und die kein Loch in die Erde graben, um die Erdgeister nicht zu kränken, haben diese Gegenden längst verlassen. Erst weit im Nordosten fand ich meinen Drehort. In einer Gegend ohne Infrastruktur, aber mit grünen Weiden und Nomaden, die noch in Jurten leben. Obwohl ich den Drehort nur in Ochsenkarren erreichen kann, bin ich entschlossen, hier zu drehen.
3. Hatten diese Erlebnisse Ähnlichkeit mit den im Drehbuch vorausgedachten Erfahrungen Ihrer westlichen Protagonistinnen ? Inwiefern haben diese sich als Änderungen ursprünglicher Absichten ausgewirkt?
Um das Problem der vor-ausgedachten Erfahrung einer westlichen Protagonistin zu thematisieren, möchte ich von meinen Erfahrungen bei der Auswahl der Schauspielerinnen berichten. Die zwanzig Begleiterinnen der Prinzessin sollten im Altangol-Gebiet gefunden werden. Die Einladung zu einer Hochzeit schien mir eine günstige Gelegenheit. Schon im Morgengrauen fanden wir uns in den Jurten der Eltern des Bräutigams ein. Die Braut, die seit Sonnenaufgang erwartet wurde, sandte - der dortigen Dramaturgie folgend - immer wieder kleine Zeichen ihrer baldigen Ankunft. Bald kamen Boten mit kleinen Geschenken, dann drei Ochsenkarren mit Koffern und Truhen, die von den Wartenden sofort abgeladen, begutachtet und in die neuerrichtete, weiße Filzjurte des Brautpaares getragen wurden. In der heißen Mittagssonne schließlich näherte sich in einer großen Staubwolke nicht nur die Braut, sondern auch zwanzig bis dreißig rotgekleidete Reiterinnen. In rasendem Tempo preschten sie herzzerbrechend weinend heran und umkreisten dreimal die Jurten. Langsam wurde mir klar und bestätigte sich dann auch, daß diese jungen Frauen nicht einfach zu engagieren sein würden, sondern daß dafür ähnlich langwierige Verhandlungen notwendig wurden, wie für eine mongolische Brautwerbung. Am Ende stellte sich dann aber heraus, daß auch die Nicht-Geworbenen dabei sein wollten: Sie fingen an, sich heimlich in die Szenen zu schmuggeln.
4. Inwieweit kann man Ihren letzten Film "CHINA. DIE KÜNSTE - DER ALLTAG" als Vorstudie zu "JOHANNA D'ARC OF MONGOLIA" ansehen? Wie hat sich die Konfrontation mit einer uns fremden Wirklichkeit in den beiden Filmen auf Ihre Haltung zur Relation "Dokumentarismus" und "Innovation/Konstruktion" ausgewirkt - ein Spannungsverhältnis, das ja allen Ihren Filmen zugrunde liegt?
CHINA. DIE KÜNSTE - DER ALLTAG, eine filmische Reisebeschreibung, die ich 1985 in verschiedenen Provinzen Chinas gedreht habe, ist insofern eine Vorstudie, als dieser Film es mir ermöglicht hat, Dreherfahrungen in China zu machen, die in mehrfacher Hinsicht aufschlussreich waren: nicht nur andere Kulturformen, einen anderen Alltag zu erleben und zu beobachten, sondern auch, meine umfangreichen theoretischen Vorbereitungen durch die Erfahrungen im Land ein Korrektiv erfuhren und vielfältig ergänzt wurden. Viele persönlich Erlebnisse haben Einfluß auf das Drehbuch für JOHANNA D'ARC OF MONGOLIA gehabt, das vor der Reise schon im Rohentwurf feststand. Gewiß, der eine Film ist ein Dokumentarfilm und der andere ist ein Spielfilm, aber für mich und unter Einbeziehung der jeweiligen Produktionsweise haben beide Genres eine tiefgreifende Veränderung erfahren. Vielleicht kann man sagen, dass CHINA… die Begegnung mit dem Fremden ist, während JOHANNA… die Inszenierung dieser Begegnung ist. Aber in dem Maße, wie beide Begegnungen wirklich stattfinden, entsteht ein "neuer Realismus", der nicht erfunden, sondern wirklich vorbereitet ist. In Recherchen, in Erfahrungen, in Vorstudien, in all diesen Durchläufen, die die Vorbereitung eines solchen Projekts mit sich bringen. Und damit meine ich: die Freisetzung von genügend Spielräumen, damit die Begegnung stattfinden kann.
"Wirklich vorbereitet" war z.B. meine Vertiefung in die mongolische Kultur und Literatur, die mündlich tradierte Epen und Märchen, die alte Schrift der "Geheimen Geschichte der Mongolen". Die im Drehbuch freigesetzte Nachahmung diese Epen verlangte aber noch nach der Beteiligung der Mongolen, damit die Realisierung gelingen konnte. So wurde von mir zu einem großen Nadom, einem Sommerfest der Mongolen, aufgerufen und von weither kamen die Familien, Mönche, Rhapsoden, Pferdegeiger und Ringer, um gemeinsam mit mir dieses Fest zu gestalten.