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Runden auf dem alten Roller – Filme von und mit Frauen

Keine besonderen Vorkommnisse, keine Aufregungen oder Überraschungen gab's auf dieser Berlinale, der ersten im "neuen" Deutschland, trotz der Zeichen der Zeit, der (welt)politischen Entwicklungen zwischen Wüstenkrieg und Wiedervereinigung. Ein Arbeitsfestival eben, so hatte sein Leiter Moritz de Hadeln es zuvor angekündigt, ein wenig kokett gewiß, doch ganz entschieden. Wobei es, für Profis wie für "normale" Zuschauer, durchaus zur "Arbeit" gehört, sich immer wieder freizumachen vom täglichen Countdown, sich herauszulösen aus dem permanenten Verwertungszwang: Film nach Film durchzusitzen, einzuordnen, in seinen Chancen einzuschätzen.
Nur wenige Filme riskieren es da, den vorgegebenen Rahmen zu sprengen, doch gerade die gehörten zu den schönsten des Festivals, Filme von den Rändern des Spektrums, Dances with Wolves von Kevin Costner sowie Countdown von Ulrike Ottinger: Filme, die zeigen, wie Grenzen erfahren und verändert werden; Filme über die Erfahrungen von Trennung und Wiederannäherung, über das Vergangene und Verlorene im Heute. Sie kommen dem Zuschauer kaum entgegen, sie erwarten seine eigene Bewegung.
Ottingers Film versammelt Bilder und Töne von Berlin, aus den letzten zehn Tagen vor der Währungsunion am 1. Juli '90. Wobei man den Titel, Countdown, nicht mißverstehen darf, er setzt dieses Datum nicht als geschichtlich bedeutsamen Zeitpunkt, dokumentiert den Zeitraum nicht als "zehn Tage, die ein Land erschütterten". Wie in ihren letzten Filmen, aus China und der Mongolei, konzentriert die Kamera der Ulrike Ottinger sich auf die Oberflächen, sie geht über Mauern und Sträucher, Wasserstrudel und Pflaster; aus verschiedenen gegenläufigen Bewegungen entsteht das Leben dieser Bilder. "Der Willkür des Anfangs entspricht die Willkür des Endes. Doch dazwischen gibt es soviel zu erzählen."
Nicht um Symptome geht es also, sondern um Spuren, nicht um Zeichen, sondern um Ablagerungen der Geschichte. Erzählen, für Ottinger hat das mehr mit Auf- und Abzählen zu tun als mit Fiktionen und kunstvollen Konstrukten. Wie ein neugieriger Tatzelwurm tastet eine Straßenbahn sich aus der engen Kurve einer Kleinstadtstraße heraus. Immer wieder verspürt man beim Zuschauer eine Versuchung, mit Interpretation sich zu wappnen gegen die Unbefangenheit der Bilder. Ein kleines Mädchen dreht auf einem alten kleinen Holzroller ein paar ungeschickte Runden auf dem Bürgersteig. Ist das nicht symbolisch für den Zustand der DDR überhaupt? […]

Fritz Göttler, Süddeutsche Zeitung, 28. Februar 1991