Ulrike Ottinger
Eine Autobiografie des Kinos
Rezension von Leonie Wild, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 22.11.2007
„Über den Bodensee bis in die Mongolei: Die Allrounderin Ulrike Ottinger wird in Berlin mit einer Retrospektive und einer Ausstellung gefeiert
Um die Welten der Ulrike Ottinger zu betreten, geht der Besucher durch einen Rahmen, der zur Kulisse von "Dorian Gray im Spiegel der Boulevardpresse" gehört, ihrem Film aus dem Jahr 1984. Inspiriert von Gustave Moreau, symbolistischer Maler des Fin de Siècle, plazierte sie ihn während der Dreharbeiten in der kargen Landschaft von Fuerteventura und postierte drei Schicksalsgöttinnen in ihm. Und so versinnbildlicht schon der Eingang in die Ausstellung eine der charakteristischen Positionen Ottingers: ihr spielerisches Verhältnis zur Realität, gespeist von der Frage, wie sich Landschaft und Industrie durch Inszenierung verändern. Als betrete man die Kabine eines startenden Flugzeugs und verließe den gewohnten Grund, ist mit dem Schritt durch die Kulisse Ottingers Kosmos betreten, der "Realität" und "Fiktion" verschwimmen lässt: etwa wenn sie fotografisch eine Zwergwüchsige vor den Toren des Berliner Olympiastadions inszeniert, wo bei den Olympischen Spielen 1936 ein gegenteiliges, menschenfeindliches Körperbild propagiert wurde.
Ottinger, vor ihrer Karriere als Filmemacherin und Regisseurin im Paris der sechziger Jahre als Bildende Künstlerin, später am Bodensee als Galeristin tätig, nutzt die Fotografie seit ihrer Pubertät im Kontext von Malerei und Film nicht bloß als Ergänzung, sondern als eigenständige Form; was ihr die Teilnahme an der Documenta X und XI und Ausstellungen weltweit eintrug; schon in Paris arrangierte sie Gruppenfotos, deren Motive sie dann auf die Leinwand brachte; und auch die im Kontext ihrer Filme entstandenen Fotografien sind nicht einfach "film stills", bloße Momentaufnahmen bewegter Bilder. Sie führen ein Doppelleben als neue Inszenierungen. Lange bevor "location scouts" zu unvermeintlichen Akteuren am Set wurden, entdeckte Ottinger die abgehalfterten, kargen Winkel und bröckelnde Industriearchitektur ihrer neuen Heimat Berlin und nutzte die bei dieser umtriebigen Suche entdeckten Orte oft erst Jahre später für Filmarbeiten. Etwa ein West-Berliner Plattenbauviertel, vor dessen gespenstisch toter Kulisse sie einerseits für "Bildnis einer Trinkerin" (1979) filmte, wo jedoch auch die Fotografie "Zirkus in Gropiusstadt" entstand, mit einem Travestiten auf dem Drahtseil, beobachtet von Zwerg und Schwein. Mit welcher Akribie Ottinger ihre Spiel- und Dokumentarfilme vorbereitet hat, belegen die vor Material berstenden Drehbücher, die Folianten ähneln. Sie versammeln auf großformatigem, vergilbtem Papier ihre Inspirationsquellen: Skizzen, Comics, Zeitungsausschnitte, eigene und historische Fotografien. Statt den Filmtext in den Vordergrund zu drängen, ist er lediglich gleichberechtigtes Bruchstück. So haben die ausgestellten Drehbücher, darunter auch zu nicht realisierten Filmen wie "Diamond Dance" und "Die Blutgräfin", den Rang von Fantasiestützen. Wie auch die "Bildpartitur", 114 zu einem Panoptikum arrangierte Fotografien aus dem Kontext von "Freak Orlando" (1981), die exotisierende Kolonialbilder neben Kriegs-, Architektur- und Kunstfotografie stellen.
Sosehr Ottinger in Berlin auf der Suche nach absurden Realitäten war, so wenig hat sie Exotik auf ihren zahlreichen Reisen nach China und in die Mongolei gesucht - ein anderer Schwerpunkt der Ausstellung. Ihre dort seit den achtziger Jahren entstandenen Fotografien, aus einem China, das noch nicht als kommender "global player" westliches Interesse auf sich zog, dokumentieren alltägliche Szenerien wie eine Straßenbibliothek und die Verbotene Stadt, menschenleer, eingefroren in einer Kälte, die aus dem Rahmen strömt. "Heitere Komplizenschaft", das ist das Wort, mit dem Ottinger ihren Draht zu den Motiven beschreibt; jene Heiterkeit lässt eine mongolische Bärentöterin oder ein greises Paar vor seiner Jurte jede Aura von "Fremdheit" gar nicht erst aufkommen. Und selbst inszenierte Fotografien aus dem Kontext von "Johanna d'Arc of Mongolia" (1989), wie jene, in der Irm Hermann über einer mongolischen Familie thront, reproduzieren keine Stereotype.
Ein seit 1970 dokumentiertes fotografisches OEuvre zwingt die Ausstellung zwangsläufig zum Verzicht: auf Ottingers Berlin-Bilder, die sie 1990 im Vorfeld der Währungsunion kreierte, Mauerszenarien, die verzichtbar sein mögen, weil die Künstlerin hinter ihnen verschwindet. Dass aber Fotografien aus dem Kontext ihres von der feministischen Filmwissenschaft entweder instrumentalisierten oder verpönten Erstlings "Madame X - Eine absolute Herrscherin" (1977) zu kurz kommen, ist nur ein Beispiel dafür, wie die Ausstellung Anregungen verweigert, in welchem biographischen und theoretischen Kontext Ottinger agiert. Warnte die Berliner Retrospektive zu Cindy Sherman die Besucher vor "verletzten Gefühlen" und entblößte die Künstlerin so erst recht, widerfährt Ottinger das Gegenteil: Sie wird verhüllt, ihre biographischen Antriebskräfte bleiben ungenannt. Und so ist es an ihr selbst gewesen, in einer Führung durch die Ausstellung, aus ihrem Kosmos zu erzählen: von der bereits in früher Kindheit entwickelten Faszination für die Mongolei, angestachelt durch einen mit dem Vater befreundeten Maler am Bodensee, durch ein Kinderbuch und die Sehnsucht nach der Fremde. Verspielt gab sie Anekdoten preis wie das Feedback chinesischer Studierender, die in ihrer 1985 entstandenen Dokumentation "China. Die Künste - Der Alltag" Szenen ihres Landes sahen, die ihnen bis dato verwehrt worden waren. Auch Laurence A. Rickels, der Ottingers Arbeit seit 1990 begleitet, schlägt in der soeben erschienenen Biographie den Bogen von ihrer Kindheit in den frühen vierziger Jahren als Tochter einer jüdischen Mutter zu den ersten Schritten als Bildender Künstlerin und später zu den Asien-Reisen, den manipulativen Einmischversuchen der Behörden, die Dreharbeiten zu boykottieren, zerstörtem Filmmaterial und Ottingers Improvisationstalent.
Ihr fotografisches Werk bleibt zwar nicht blass, im Museum für Film und Fernsehen, auch wenn der biographische Kontext fehlt. Sie aber erhält den Status einer Projektionsfläche, einer mysteriös vor Fantasie strotzenden Allrounderin, ohne dass dargelegt wird, was ihrer Kunst erst den Gehalt verpasst: ihr eigener Zugang zu Marginalität und die Verweigerung von noch so verführerischem Exotismus.“