Pressemitteilung anlässlich der Buchpräsentation am 1. Dezember 2005
Gemeinsam mit dem Filmmuseum Berlin feiern wir das Erscheinen von Ulrike Ottinger: Bildarchive. Fotografien 1970-2005, dem ersten umfassenden Künstler- und Werkbuch von Ulrike Ottinger und begrüßen dazu die Künstlerin im Kino Arsenal. Wir freuen uns, dass Gertrud Koch, eine der Autorinnen, eine Einführung hält.
Als „Kino der Stationen“ betitelten wir 2001 eine Hommage an Ulrike Ottinger, deren filmisches Werk wir im Arsenal und im Forum seit vielen Jahren begleiten: „In seiner Eigenschaft als ein Medium, das aus Einzelbildern und Sequenzen besteht, aus der Spannung zwischen Stillstand im Bild und der Bewegung der Bilder, entspricht der Film einer der ältesten Dramaturgien, der der Stationen“. So zu lesen in Ulrike Ottingers Text „Stationen Kino – Kleine Geschichte des Erzählens in freien Bildern“.
Diese Geschichte ist nun in ihrem Buch zusammengefasst. „Ulrike Ottinger: Bildarchive. Fotografien 1970-2005 verfolgt das fotografische OEuvre der Künstlerin über einen Zeitraum von 35 Jahren, von 1970 bis heute. Das Buch veranschaulicht eine Auswahl des umfangreichen Bilderarchivs oder des Bilderfundus der Künstlerin, Fotografien, die teils während der Arbeit an den Filmen, als Recherche zu den Filmen, aber vor allem auch als eigenständiges und ausdrucksstarkes Werk entstanden sind, das lange Zeit ein wenig im Schatten der Filme stand. Während manche ihrer Filme oft langsame, geradezu andachtsvolle Bilder sind, die an Tableaux Vivants erinnern, scheinen ihre Fotos dynamisch, wie angehaltene Bewegungen, und inkorporieren monadenhaft Geschichten, die vor unseren Augen zu leben beginnen.“ (Gerald Matt)
Was liegt näher, als ein solches Werk in all seinen Dimensionen zu präsentieren? So ist für 2006 eine umfangreiche Fotoausstellung im Filmmuseum geplant, ergänzt durch Kostüme aus der Sammlung des Hauses und korrespondierend mit Filmvorführungen im Arsenal. Sind die Fotos die Stationen der Entstehung des filmischen Werkes oder können die Filme dazu beitragen, beim Gang durch die Ausstellung an einzelnen Orten in der Mongolei, der Ukraine oder im West-Berlin der 80er Jahre innezuhalten? Ist das Dokumentarische im Theatralischen oder das Bühnenhafte in den Landschaften zu finden? In ihren Filmen und Fotografien tauchen unbekannte Gesichter aus den Peripherien unseres geografischen und gesellschaftlichen Horizonts auf, aber auch literarische und historische Persönlichkeiten wie Dorian Gray und Johanna von Orleans sowie exzentrische Freaks – ihre Kostüme verleihen ihnen die Überhöhung, die sie brauchen, um aus der Gleichförmigkeit aufzublitzen.
Die Buchpräsentation, begleitet von Ausschnitten aus CHINA. DIE KÜNSTE - DER ALLTAG (1985), soll einen ersten Lichtstrahl auf eine in Planung befindliche Gesamtschau werfen.
Ulrike Ottinger: Bildarchive. Fotografien 1970-2005 wurde gemeinsam von der Ursula Blickle-Stiftung, dem Witte de With und der Kunsthalle Wien koproduziert, es erscheint anlässlich der Ausstellung „En Face“ in der Ursula Blickle-Stiftung im Kraichtal (13.11.-18.12.05) und wurde bereits von Ulrike Ottinger und Catherine David anlässlich der Ausstellung „Bild Archive“ (2004) im Witte de With, Center for Contemporary Art, in Rotterdam konzipiert.
Salzburger Nachrichten am 12. Dezember 2005, Pia Feichtenschlager Wien (SN)
Bilder in Szene gesetzt
"Die Groteske lässt uns die Schwere des Alltags bewältigen", sagt die Filmemacherin Ulrike Ottinger. Ihr Werk ist nun in einem Buch dargestellt.
Das schwarzweiße Foto zeigt zwei Inder in modernen Anzügen. Der eine ist glatt rasiert, der andere ist bärtig und hat einen Turban auf dem Kopf. Im Hintergrund sind die typischen Amsterdamer Häuser entlang der alten Wasserstraßen zu erkennen. Es ist das erste Foto Ulrike Ottingers. Als 9-Jährige hat sie es im Jahr 1951 während einer Grachtenfahrt aufgenommen. Dieses älteste Bild der deutschen Kunstfilmerin enthält bereits Themen des späteren oeuvres: Reise, Nomadentum, Aufeinandertreffen von Moderne und Tradition sowie Wechselspiel von Selbstinszenierung und Blick der Fotografin.
Ottingers "offene" Fotografien, die als dialogische Arbeit entstehen, sind im Mittelpunkt des Buches "Ulrike Ottinger - Bildarchive". Darin werden erstmals Werk und Künstlerin umfassend vorgestellt. Herausgeber sind Kunsthalle Wien, Ursula-Blickle-Stiftung und Witte de With. Am Samstag wurde es in der Videolounge der Kunsthalle Wien vorgestellt.
Das Buch versammelt Fotografien ab 1970. Ein Großteil davon ist während der Arbeit an ihren opulenten Spielfilmen ("Madame X", "Bildnis einer Trinkerin", "Freak Orlando") und Dokumentarfilmen ("China. Die Künste - Der Alltag", "Taiga") entstanden.
Die Bilder seien nach den Themen gegliedert, "die mich begleiten", erläutert die Künstlerin im SN-Gespräch. Also: En Face (Gegenüber), Landschaft, Theatrum Sacrum, Markt, Rahmen, Farbe, Essen, Architektur und Alltag. Diese Gliederung wird aber aufgebrochen, indem die letzten Bilder des jeweiligen Kapitels das nachfolgende Thema einleiten. Dies ist ein Verweis darauf, dass die Bilder des Lebens vielschichtig sind und sich überschneiden; klare Strukturen sind kaum möglich. "Auf eine chronologische Gliederung wurde ebenso verzichtet wie auf die Trennung zwischen meiner Inszenierung und den dokumentarischen Arbeiten, die ja immer auch eine Form der Inszenierung darstellen", sagt Ottinger. So sind stark aufgeladene Bilder der Schauspielerin Tabea Blumenschein neben Reisebegegnungen in China, der Mongolei oder Indien zu sehen.
Die 1942 in Konstanz, Baden-Württemberg, geborene Künstlerin versteht sich in ihren dokumentarischen Arbeiten weniger als Ethnologin. Vielmehr hat sie sich dem "freien Umgang mit Realität" verschrieben. "Die Dramaturgie der Stationen ist mit der Reise identisch; in den Orten offenbart sich die Geschichte", erläutert Ottinger. Ihre Untersuchungen von Gesellschaft und Kunst - Theater, Performance oder Collagen - zeigen den einfachen dokumentarischen Blick ebenso wie den überhöhten, aufgeblähten Blick, aus dem sich die Groteske speist. "Die Groteske lässt uns die Schwere des Alltags bewältigen."
Ulrike Ottingers Fotografien und Filme sind bunt wie das Leben und die Kunst die von Leben durchtränkt ist. In der Ursula-Blickle-Videolounge der Wiener Kunsthalle sind bis 31. Dezember drei ihrer Experimentalfilme zu sehen: "Usinimage", "Das Exemplar" und "Superbia. Der Stolz".
Ihr aktueller Film "12 Stühle" erlebte am Sonntag im Filmcasino in Wien seine Österreich-Premiere. Hier zieht Ottinger ein Stück russischer Literatur aus den 20er Jahren von Ilja Ilf und Jewgeni Petrow wie einen Reißverschluss stückweise in die heutige Ukraine.