Exil Shanghai

Deutschland / Israel 1997, 16mm, Farbe, 275min

Sechs Lebensläufe deutscher, österreichischer und russischer Juden, die sich im gemeinsamen Fluchtpunkt Shanghai kreuzen. Aus Erzählungen, Photos, Dokumenten und neuen Bildern aus der größten und widersprüchlichsten Metropole des Fernen Ostens wird ein Ganzes, in dem das historische Exil aktuelle Brisanz gewinnt.

Langsam und vorsichtig nähert sich der Film der Stadt wie ein Reisender vom Meer, betrachtet den Hafen, bleibt an europäisch anmutenden Fassaden hängen, lange Einstellungen von Märkten, Stadtverkehr; einer Suppenküche. Er berichtet von einer gegenwärtigen Abwesenheit, die zarte Spuren hinterlassen hat - die der Juden in Shanghai. Fragment einer Stadtgeschichte, über die sich sowohl die chinesische Geschichtsschreibung als auch die der Diaspora bislang ausgeschwiegen haben. Ottinger läßt sie wiedererstehen, indem sie Menschen reden läßt, ihnen viel Zeit für die persönliche und allgemeine Geschichte gibt.

Drei Wellen jüdischer Zuwanderung hat Shanghai erlebt: eine kaufmännische im 19. Jahrhundert durch die Sephardim und zwei der Flucht vor osteuropäischen Pogromen und dem deutschen Völkermord. Heute sind sie erneut vertrieben; manche schon durch die japanische Okkupation in den vierziger Jahren, die restlichen durch die chinesische Rückeroberung in den fünfzigern.

Ulrike Ottinger hat sie in ihren neuen Residenzen in Kalifornien besucht und läßt sie vor laufender Kamera berichten: Vom Kampf um Arbeit und das tägliche Überleben, von deutschsprachigen Zeitschriften und chinesischen Kohleöfchen, von Wiener Bäckereien und Berliner Wurstküchen, vom Elend erneuter Ghettoisierung, aber auch vom Luxus der kolonialen Existenz, die manche unter ihnen genossen.

Original: Englisch und Deutsch | OmU deutsche oder englische UT
Fotos zum Film
Besetzung/Stab

Regie, Kamera

Ulrike Ottinger

Musik

Originalmusik der 20er und 30er Jahre aus verschiednen Archiven und der Sammlung Raymond Wolf

Die Interviewten

Rena Krasno (Mountain View, Kalifornien, November 1995)
Rabbi Theodore Alexander und Gertrude Alexander (Danville, Kalifornien, November 1995)
lnna Mink (Kentfield, Kalifornien, November 1995)
Georges Spunt, 1923-1996 (San Francisco, November 1995)
Geoffrey Heller (Berkeley, Kalifornien, Dezember 1995)

 

 

Team San Francisco

 

Produktions-/Aufnahmeleitung

Erica Marcus

Ton

Sara Chin

Kamera-Assistenz

Caitlin Manning

 

 

Team Shanghai

 

Recherche

Katharina Sykora

Kamera-Assistenz

Bernd Balaschus

Übersetzer

Ting I Li

Team des Shanghai-Filmstudios

Bao Qicheng, Catherine Fu, David Su, Benny Zhu, Chen Yong, Shao Zhiyu, Xu Chengshi, Ni Zheng, Xu Xiushan,Yi Akou

 

 

Team Israel

 

Rostrum Kamera

Yossi Zicherman

Produktionsleitung

Uzi Cohen

Aufnahmeleitung

Madeleine Ali

 

 

Team Berlin

 

Produktionsleitung

Ulrich Ströhle

Vertonung

Bettina Böhler

Tonmischung

Hartmut Eichgrün

Mit Unterstützung der Medien- und Filmgesellschaft Baden-Württemberg, der FiImförderungsanstalt Berlin, The New Foundation For Cinema & Television Tel Aviv, dem Israeli Film Center, dem Ministry of Industry and Trade, Tel Aviv

Ulrike Ottinger Filmproduktion, Berlin in Koproduktion mit Transfax Film Productions, Marek Rozenbaum, Tel Aviv

Uraufführung
18. Februar 1997, Berlinale, Internationales Forum des Jungen Films

Pressestimmen

Moving Pictures at the Berlinale, 18.02.1997
Fascinating and rich with dry humour; EXIL SHANGHAI is an extraordinary cultural odyssey that affectionately conjures up the lost Jewish world of Shanghai, the most fabulous city of the Far East.

Veronika Rall, in: Frankfurter Rundschau, 20.02.1997
Lange hat man Zeit, die Gesichter zu betrachten, viel Raum wird dem gewandten Ausdruck gegeben, in dem diese Mehrfach-Emigranten erzählen, die von Geschichten übersprudeln
EXIL SHANGHAI weiß viel und kommt daher ohne Didaktik aus. Kein erklärender Text aus dem Off stört den Betrachter, man darf sich selbst ein Bild machen vom Ort und den Menschen, die dort leben und lebten. Fragmente, Details geben Einblick in Strukturen. Der Film hält die poetische Kameraführung, die Ottingers Arbeit auszeichnet, in den Interviews wie in den Aufnahmen der gegenwärtigen Stadt, als ob jene strenge Ordnung der Dinge fernöstliche und europäische Ästhetik mischte. Vorsichtig werden Tagebücher auf einen roten Tisch gebreitet, auf dem sich, wie zur Zierde, ein Kakadu tummelt; so sorgfältig wie die Photographien ausgepackt werden, cadriert sie die Kamera.
Der Film leitet sein Publikum zärtlich, er läßt uns in die Bilder gleiten, die eine Originalmusik aus den dreißiger und vierziger Jahren wunderbar ergänzt. So stellen sich ungeahnte Verbindungen her, Trauer paart sich mit Melancholie, denn es ist nicht nur eine Geschichte des Leids und der Flucht, die EXIL SHANGHAI erzählt. Manch einer, so stellt insbesondere das Ende klar, wäre gern in der exterritorialen Stadt geblieben, hätte das Transitäre zugunsten einer Bleibe im Exotischen aufgegeben. Diese Faszination im Präsens eingefangen zu haben, macht Ottingers Film zu mehr als einem historiographischen Dokument, nämlich zu einer Sinfonle der Großstadt, in der sich das Fremde und das Eigene klangvoll mischen.

Jörg Magenau, in: Freitag, Berlin 10/97
[…] Nüchterner, ergreifender ist Ulrike Ottingers Dokumentation über das EXIL SHANGHAI, einen bisher kaum bekannten Ausschnitt der Geschichte. Shanghai war bis zur japanischen Besatzung 1942 der weltweit letzte Zufluchtsort mit offenen Grenzen. Hier lebten Angehörige vieler Nationen in friedlicher Koexistenz, hierher flohen viele europäischen Juden und versuchten, ein neues Leben aufzubauen, bis sie von den Japanern 1943 ins Ghetto gesperrt wurden.
Daneben gab es eine alteingesessene Schicht sephardischer Juden, meist steinreiche Kaufleute, die der spätkolonialistischen Elite zugehörten. Mit den Exilanten kamen sie nur selten in Berührung. Aus Interviews mit ihnen, mit deutschen, österreichischen und russischen Juden, aus Photos, Dokumenten und Filmaufnahmen vom heutigen Shanghai entsteht das Bild einer vitalen Stadt und eines nur wenig bekannten Kapitels der Exilgeschichte: ein Leben zwischen Dekadenz und Ghetto.
Die Bilder aus der Gegenwart – Straßenszenen, Marktgeschehen oder Schiffe im Hafen – wirken dabei wie eine Oberflächenhaut, die erst in den Erzählungen der lnterviewpartner ihre historische Tiefendimension gewinnt. Der Film funktioniert als Medium der Erinnerung, und die Erinnerungen sind Türen in eine unbekannte Welt. Ottinger findet eigene, eindrucksvolle Bilder. Sie spürt auf, trägt zusammen und blendet die verschiedenen Zeitebenen virtuos übereinander, so daß Geschichte sichtbar und stofflich fühlbar wird. Die Musik dient ihr nicht [...] als Gefühlsquetsche, sondern ist ein autonomer Teil des Geschichtsmosaiks, manchmal auch ironischer Kommentar. Etwa dann, wenn zum Bericht vom Hafen das alte Lied erklingt: ,,lrgendwo auf der Welt gibt’s ein kleines bißchen Glück, und ich träume davon jeden Augenblick.“ So gelingt Ottinger etwas ganz Seltenes: Erinnerungen vielschichtig und lebendig zu machen. Sie beschwört keine Gespenster sondern öffnet und weitet den Blick.

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