Prater

Deutschland/Österreich 2007, 104min, 35mm, Dolby Digital Surround

Menschen, Monster, Sensationen. Mit betörenden Bildern verwandelt Ulrike Ottingers Film Prater den beliebten Wiener Ort der Sensationen in ein Kinoerlebnis. Der Prater ist ein realer Ort des Vergnügens und eine Wunschmaschine. Keine technische Erfindung, keine bahnbrechende Idee, keine sensationelle Neuigkeit, die nicht sofort im Prater aufgetaucht wäre. In Miniaturen wird die Geschichte des Wiener Praters von den Anfängen bis heute erzählt. Das bunte Erscheinungsbild des Praters im Spiegelbild seiner technisch medialen Entwicklung wird mit Texten von Elfriede Jelinek, Josef von Sternberg, Erich Kästner, Elias Canetti illustriert und durch vielseitige Musiken akzentuiert.

Praterdynastien erzählen vom Schaustellerleben. Wir begegnen den Nachkommen des „Manns ohne Unterleib“, der um 1900 mit Frau und Kindern eine Vielzahl bis heute bestehender Vergnügungsbetriebe gründete. Wir treffen die Besitzer des Schweizerhauses, Manager eines gastronomischen Spitzenbetriebs, deren Vorgänger kaiserliche Jagdtreiber waren, oder den Prater-Heinzi, der ausgemusterte Illusionsmaschinen repariert. Zusammen mit den Praterbesuchern von früher und heute reisen wir, ohne uns von der Stelle zu bewegen: Wien verwandelt sich in Klein-Venedig mit Kanälen, Rialtobrücke und Dogenpalast. Von hier aus kann man Postkarten in alle Welt verschicken. Und über all dies trägt uns das Riesenrad und bietet uns den Blick über die Dächer von Wien.

Bei Tag gehört der Prater den Kindern und Familien. Mit strahlenden Augen sitzen die Kleinen in Miniaturautos und vor dem Kasperltheater. Der Abend zieht die Jugendlichen magisch an und alle, die jung geblieben sind. Dann verwandelt sich der Tanztee in eine wilde Disco einsamer Herzen. Teenager zeigen mit abenteuerlicher Akrobatik zu osteuropäischen Raprhythmen, dass keine Zentrifugalkraft sie aus dem Gleichgewicht bringen kann. Eine Jugendgang beweist sich am „Watschenmann“. Und über allem glitzern die in bunten Farben leuchtenden Achterbahnen. Ejection Seats, Karussels und Autoscooter machen den Sternen am Nachthimmel Konkurrenz. Wirklichkeit und Illusion, Vergangenheit und Gegenwart: Hier geben sie sich ein fulminantes Stelldichein.

Ulrike Ottingers Film Prater taucht mit seinen atemberaubenden Bildern jeden Kinogänger in sein eigenes Universum der Wünsche und Sensationen. Er verbindet die Kulturgeschichte des ältesten Vergnügungsparks der Welt mit brillanten Einblicken in die Wandelbarkeit der technischen Attraktionen. Zugleich erzählt er von Menschen, für die der Prater Ort der Unterhaltung, der Erinnerung oder ganz einfach Lebensmittelpunkt ist. Der Wiener Prater ist eine Wunschmaschine. Mit der neuesten Raumfahrttechnik lässt man sich in den Himmel schießen und in der Geisterbahn trifft man die Monster der Kinogeschichte. Die Wiese (Pratum) – früher Jagdrevier des Kaisers – ist heute Spielwiese für jedermann. Der Sprung durch Raum und Zeit: Hier ist er möglich.

Fotos zum Film
Besetzung/Stab

Buch und Regie

Ulrike Ottinger

Kamera

Ulrike Ottinger

Regieassistenz/Aufnahmeleitung

Hanne Lassl

Kameraassistenz

Martin Putz
Elsbeth Freid

Materialassistenz

Anna Manhardt
Volkmar Geiblinger

Kamera-Rig (SFX)

Rüdiger Schnur
Martin Putz

Universalassistenez

Peter Musek

Ton

Klaus Kellermann

Kostüm für Veruschka

Art for Art, Wien
Annette Beaufaÿs
Benno Wand

Maske für Veruschka

Beate Lentsch-Bayerl

Fotokulisse
„Gorilla raubt weiße Frau“

Atelier Seiz & Seiz
Renate Seiz

Script

Maria Turek

Schnitt

Bettina Blickwede

Schnittstudio

Concept AV, Berlin

Tonstudio

Tremens Tonstudio, Wien

Tonschnitt

Veronika Hlawatsch

Tonmischung

Bernhard Maisch

Übersetzung

Christina M. White

Kameraequipment

MOVIECAM, F.G. Bauer GmbH
JURACZKA Audiovisuelle Systeme
Martin Weixelbaum

Filmmaterial

Rudolf Möstl
KODAK GmbH

Lichtequipment

Paul Bogotaj
LGL Lichttechnik GmbH

Colour Grading

Tom Varga

Online-Schnitt

Geoffrey Kleindorfer

Datentransfer ARRI-Laser
35mm Kopie

Herbert Fischer
Franz Rabl
LISTO Videofilm

Untertitel

TITRA Wien

Versicherung

Regine Reiger
Aon Jauch & Hübener GmbH

Produktionskoordination Berlin

Ulla Niehaus
Silja Lex

Produktionskoordination Wien

Marion Rutzendorfer

Produktionsleitung

Gerhard Hannak

Herstellungsleitung

Kurt Mayer

Filmgeschäftsführung

Franz Klein

Produzent

Kurt Mayer

Koproduzentin

Ulrike Ottinger

Redaktion

WDR - Jutta Krug
ORF - Peter Wustinger

Gäste

Elfriede Jelinek
Elfriede Gerstl
Ursula Storch
Werner Schwarz
Herbert J. Wimmer

Erzähler

Peter Fitz

Barbarella

Veruschka

Zauberer

Robert Kaldy-Karo

Assistentin

Barbara Prewein

Original Wiener Praterkasperl

Georg Albert
Evelyn Sulzbacher

Prater-Heinzi

Heinrich Holub

Musik im „Eisernen Mann“

Die Spezies – Gregor Mörth, Johann Stromberger

Prater Familien

Liselotte und Silvia Lang
Hedy und Elisabeth De Jonge
Alfred Kern
Lydia, Karl und Hanni Kolarik
Agnes und Philipp Kolnhofer
Eva, Thomas und Stefan Sittler

Archive

Filmarchiv Austria
Österreichisches Filmmuseum
Wien Museum
Österreichisches Volkshochschularchiv
Österreichische Nationalbibliothek, Bildarchiv Wien
Wienbibliothek im Rathaus, Plakatsammlung
Österreichische Mediathek
Museum für mechanische Musik, Familie Rechberger
Ulrike Ottinger Filmproduktion
Mayer’s Filmaktualitätenbüro
Kurt Mayer Film

Privatarchive

Familie Kern
Familie Lang
Familie Kolnhofer
Familie Kolarik
Familie Sittler
Günther Schifter
Timm Starl

Besonderen Dank an

Franz Biswanger, Christine N. Brinckmann, Josef Kurt Darmstätter, Christian Dewald, Gefion Gufler, Rudolf Kracher, Wolfgang Lorenz, Alexander Meier-Histand, Heinrich Mis, Hubert Pichler, Walter Porndorfer, Slandian Radulovic, Günther Schifter, Edith Schlemmer, Werner Schwarz, Bela Somogyi, Ursula Storch, Katharina Sykora, Elis Veit, Wiener Praterverband, Wien Event, Wiener Riesenrad, Kleine Hochschaubahn, Liliputbahn im Prater GmbH, Vergnügsbetriebe Karin Jenko und Vera Löbel, Gertraud Peer, Josef Popp, Ingrid Schredl, Karin Koidl, Johann Dallinger, Maria Lindengrün

Wir danken allen PraterbesucherInnen!

 

 

Eine Koproduktion von kurt mayer film mit Ulrike Ottinger Filmproduktion und WDR gefördert von Filmfonds Wien und ORF

 

Pressestimmen

Die Künste im Komplettpaket: Ulrike Ottinger. Leonie Wild, FAZ, 08.02.07
Mit ihrer gleichzeitig märchenhaften wie ernüchternden Dokumentation „Prater“ über den traditionsreichen Wiener Vergnügungspark beschwört [Ulrike Ottinger] nostalgische-verklärte Erinnerungen an Zeiten herauf, in denen Kinos noch Lichtspielhaus hießen und Groschen für den Eintritt reichten. Ulrike Ottinger […] glückt wie häufig in der Vergangenheit das Risiko, als Drehbuchautorin, Regisseurin und Kamerafrau zu agieren, ohne ihre Stärke einzubüßen oder handwerkliche Mängel zu entblößen.

Staunen und taumeln: „Prater“ von Ulrike Ottinger, Daniela Sannwald, Der Tagesspiegel, 10.02.2007
Kleine Puppen, große Puppen, menschliche, tierische, außerirdische. Es wackelt und ruckelt, schaukelt und zuckelt. Augendeckel klappen auf und zu, es piept, grunzt und grummelt, kreischt und bimmelt: Als Eldorado billiger Artefakte führt Ulrike Ottinger den seit dem späten 19. Jahrhundert bestehenden und immer wieder neu erschaffenen Wiener Prater ein, diese Mutter aller Lunaparks. Dass der Prater mehr zu bieten hat als grellen Kitsch erweist sich im Verlauf des Films. Ottinger hat Bilder des heutigen Praters mit historischen Fotos, Plakaten und Filmausschnitten montiert. Sie hat Interviews mit Prater-Veteranen geführt und Literaten und Schauspieler eigene und fremde Texte lesen lassen, die von der Faszination Lunapark erzählen.
Die Filmemacherin selbst zieht mit staunendem Kameraauge von Attraktion zu Attraktion. Sie kann sich offenbar gar nicht satt sehen, und wie nebenbei fängt sie wunderbare Szenen ein: Eine indische Großfamilie in prächtigen Gewändern lässt sich beim Nostalgie-Fotografen mit k.u.k.-Kostümen ausstaffieren. Und eine Männergruppe in strammen Lederhosen und Kniestrümpfen zeigt verblüffende Ähnlichkeit mit einer automatischen Affenkapelle. Ulrike Ottinger dreht seit zwanzig Jahren Reisefilme, und man konnte ihr bisher nicht vorwerfen, dass ihre Filme zu kurz sind. „Prater“ ist leider nur knapp über hundert Minuten lang, und wenn er zu Ende ist, fühlt man sich wie nach einer Karusselfahrt: ein bisschen schwindlig und ein bisschen glücklich. Es hätte ruhig noch weitergehen können.

Peeping Prater, Rainer Bellenbaum, die tageszeitung, 12.02.2007
[…] Ulrike Ottinger lässt sich gelassen und nur scheinbar selbstvergessen auf die turbulenten Rhythmus- und Perspektivwechsel des Rummels ein. Genau deswegen vermittelt ihr Film ein Gespür für die vielfältigen Konfigurationen zwischen Schaulust und Grenzerfahrung. Elegant führen das die Kleinwüchsigen oder die ohne Unterleib vor, die eben in solcher körperlichen Besonderheit den Grund zur offensiven Selbstdarstellung gefunden haben - jene Freaks und Verpuppten, wie sie von jeher Ottingers Filme bevölkern. […]

Schießbuden als Ersatz für die große Jagd, Christina Bylow, Berliner Zeitung, 17.02.2007
[…] Ulrike Ottinger ist auf den Prater gegangen wie in ein fremdes Land und fand dort Miniaturwelten vor, die immer schon mehr als nur Substitut der großen Welt für die „kleinen“ Leute waren. […]
Ihre Erzähler-Stimme mischt sich mit den Lust-Angst-Schreien des Publikums in den Achterbahnen und den ewig-gleichen Leierkastenwalzern zu einer Partitur über die Schrecken des Vergnügens. Auch das flaue Gefühl in der Magengrube gehört unbedingt dazu. Ottinger lässt die Kamera Achterbahn fahren und weit in den Wiener Sternenhimmel hochschießen - wer sich in die Vergnügungsmaschine des Kinos begibt, liefert sich aus.

Wiener Schnitzel im Akkord, Leonie Wild, Frankfurter Allgemeine Zeitung, 17.02.2007
Ulrike Ottinger dokumentiert das wahre, anekdotenreiche Märchen, das der Prater symbolisiert, etwa wenn sich eine indische Großfamilie für das Souvenirfoto in Gewänder der Jahrhundertwende schmeißt und zur k.u.k.-Dynastie mutiert. Dass der Prater eine Scheinwelt ist, ein vorgeblicher Kindertraum, beweist auch die Sequenz mit Ottingers angestammter Akteurin Veruschka von Lehndorff. […] Doch so sehr die Illusion bezaubert und bei der Uraufführung im Forum der Berlinale seliges Kinderlächeln heraufbeschwören wird: „Prater“ erspart nicht die desillusionierende Realität, die dem Vergnügungspark innewohnt. Ausschnitte aus NS-Propagandafilmen zeigen Agitation gegen das „Völkergemisch“, Archivfotos zeigen die Brandruinen 1945. Ottinger filmt stramme Burschen, dickgesichtig und potent, eben noch auf der Wasserrutsche, die sich verstohlen über die klammen Lederhosen wischen. Die Kamera hält auf triste Schießbuden. Sie dreht sich mit alternden Tanzpaaren im Kreis, die ins Klischee einsamer Herzen passen, das Haar toupiert, Nietengürtel, Schlangenleder.
[…] Ein poetischerer, beglückenderer Abgesang, als Ottinger ihn leistet, ist schwer vorstellbar.

Zum Weiterlesen

Textauszüge und literarische Zitate aus dem Film

Josef von Sternberg – „Ich, Josef von Sternberg“ (Auszug)

Unzählige Schießbuden, Kasperltheater mit der unvermeidlichen Teufelspuppe, weißgeschminkte Clowns in Dominokostümen, Boote, die von hoch oben mit lautem Klatschen ins Wasser schossen, Puppen mit Ledergesichtern, die stöhnten, wenn man sie schlug. Dressierte Flöhe, Schwertschlucker, Purzelbaum schlagende Liliputaner und Männer auf Stelzen, Schlangenmenschen, Jongleure und Akrobaten, Schaukeln, die die Röcke flattern ließen, so dass man sah, dass nicht alle Frauen keine Unterwäsche trugen.

Hypnotiseure, die die Schwerkraft aufheben konnten und Ringe um schlafende Frauen legten, die ein Meter fünfzig über dem Boden schwebten, auf dem sie eigentlich hätten liegen müssen, und in der Mitte von allem ein riesiger chinesischer Mandarin mit einem Schnauzbart, länger als ein Pferdeschweif, der sich auf einem Karussell zu den Klängen von Ivanovicis Donauwellen drehte... Was mehr hätte ich mir wünschen können?

 

Alfred Kern – Schausteller 

„Zu dieser Zeit kam dann auch ein gewisser Herr Stephan Perlmann in den Prater und zu meinem Großvater und überzeugte diesen, dass es die Zeit ist, umzustellen. Und so kam es, dass wir aus dem vorhandenen Karussell ein Kino machten. Das erste Stummfilmkino – 1905 – weil da war das was! Ja, da hat man bewegte Bilder... Das war sensationell für die Leute! Da wurden auch die Vorstellungen im Rahmen von 15, 20 Minuten abgehalten. Und dann kam der Tonfilm. Da waren wir eine der ersten, die auch umgestellt haben zum Tonfilm. Wir haben die Taucherglocke weggeben. Haben aus den zwei Betrieben ein großes Tonfilmkino gemacht. Wir hatten dann auch noch das Planetarium und Tegetthoff-Kino, das am Praterstern gewesen ist. Ein Kino, das nicht nur Kino war, sondern auch Planetarium. Wir haben ganz tolle Optiken von Zeiss, Jena-Zeiss gehabt. Wir bekamen dann noch weiter auf der Praterstrasse das Nestroy-Kino dazu. So hat sich meine Familie in der Kino-Branche mit meinem Onkel, mit dem Herrn Perlmann, einen Namen gemacht.“

 

Elfriede Jelinek – „Prater-Text für Ulrike Ottinger“ (Auszug)

 Wenn die Gefahr bestand, ich könnte die Beherrschung verlieren, schreiend vor Vergnügen auf dem Ringelspiel mit den Topferln – meinem Lieblingsringelspiel – oder auf anderen Vergnügungsmaschinen, inmitten all der Buntheit des Praters und all der Vielfältigkeit, die sich ohnehin jeder Beherrschung zu entziehen schien, wenn ich also außer Rand und außerhalb ihrer Herrschafts-Bande zu geraten drohte wie eine verirrte Billardkugel, musste ich, gleichsam am Schnürl, wieder zurückgeholt werden. 

Da waren also Buntheit und Vielfachheit all der Pratergeräte, nur dazu da, benützt zu werden, als Geräte, dazu vorhanden, um den Benutzern etwas zu eröffnen, das die Benutzer, Menschen, Kinder, Erwachsene, immer wieder neu erscheinen lassen konnte, auch wenn sie immer wieder die Alten waren, wenn sie davon herunterstiegen oder daraus hervorkamen, aber diese Erlustigungsmaschinen, Spiegelkabinette, Geisterbahnen, Hochschaubahnen, immer das Neueste vom Neuen, das gehört zur Technik, ja dazu, dass sie immer das Neueste ist und bietet, diese Maschinen und auch das kleinste Ringelspiel ist ja eine Maschine, in die man sich begibt, und wenn man dabei klein ist, kann man sich vorübergehend groß vorkommen, mit Hilfe der Technik, die einen liebevoll aufnimmt. 

Der Prater allerdings ist mir, als ich Kind war, von meiner Mutter weggenommen worden, weil mein Wille, diese Vergnügungsmaschinen mit meinem kleinen Körper zu bändigen, ein Wille war, der auf etwas anderes gerichtet war und letztlich der Zähmung, der Dressur durch die Mutter mit einem Atom Willenskraft Widerstand geleistet hätte. Aber das Ziel war ja: Ich sollte gemeistert werden. Ich sollte nicht Maschinen mit mir bestücken und damit eine Art Herrschaft über sie erlangen. Da hätte ich ja etwas über Herrschaft lernen können, und das war nicht erlaubt. Der einem fremden Willen Unterworfene treibt, wie Stückgut, Papierln, Äste, am Wesen des Lebens vorbei. Der Prater hätte nichts als ein Kescher sein können, der einen hätte herausholen können. 

 

Herbert J. Wimmer – Schriftsteller 

„Da sind wir aus Niederösterreich, mit Hunderten anderen Firmlingen nach Wien gefahren, um eben im Stephansdom gefirmt zu werden und ein fixer Bestandteil des Programms ist dann natürlich nach der Firmung der Prater. Es hat sozusagen kein normales Publikum gegeben an diesem Tag. Da also fast 1000 Firmlinge, glaub ich, hier her gekarrt wurden, um eben dieses Erlebnis zu bekommen. Das ist ja irgendwie auch so eine Art Initiationsritus, nicht nur im religiösen Teil, sondern auch in das Vergnügen!“

 

 Dr. Ursula Storch – Kuratorin, Wien Museum

„Eine Reise um die Welt im Wiener Prater

Obwohl der Prater von der Wiener Innenstadt aus in kurzer Zeit zu erreichen war, konnte es geschehen, dass diese Wegstrecke im 19. Jahrhundert zu einer Reise in ein fremdes Land oder auf einen fremden Kontinent wurde.

Mithilfe verschiedenster illusionistischer Methoden wurden im Prater zur Unterhaltung imaginäre Reisen, Reisen im Kopf, angeboten. So zeigte man etwa ein überaus realistisch gemaltes Panorama der Stadt London, Grottenbahnen und Fahrdioramen luden zur Reise Wien – Konstantinopel, Wien – Nizza oder Wien – Paris ein. Das so genannte Pleorama täuschte eine Schiffsreise vom nördlichen Amerika bis zum Nordpol vor und neben lebenden exotischen Tieren wurden auch Menschen aus fernen Regionen bestaunt, die unter geheimnisvoll klingenden Bezeichnungen wie Zulukaffer und Matabelen, Siamesen, Kabylen und Fidschi-Insulaner angekündigt wurden. Während der Weltausstellung konnte man im Palais des Vizekönigs von Ägypten den Harem besichtigen, im türkischen Kaffeehaus die Wasserpfeife rauchen und im amerikanischen Indianerzelt einen Longdrink nehmen. Eine der perfektesten Reiseillusionen im Wiener Prater war jedoch eine verkleinerte, aber begehbare Rekonstruktion Venedigs mit Palazzi, Restaurants und Souvenirbuden sowie einem Kanalsystem, das man in originalen Gondeln befahren konnte. „Gruß aus Venedig in Wien“ war auf die Ansichtskarte gedruckt, die man von dieser imaginären Reise nach Hause schicken konnte – womit auch die Samstag Nachmittags zu Hause Gebliebenen in die Illusion einer Reise eingebunden wurden.“

 

Dr. Werner Schwarz – Kurator, Wien Museum

„Aschantifieber“, so ein Wiener Redakteur, hätte 1896 in der Stadt grassiert. Die Rede ist von einem sogenannten afrikanischen Dorf, das mehrere Monate lang im Tiergarten des Praters aufgebaut ist und in dem mehr als einhundert Frauen, Männer und Kinder leben. Zu bestimmten Zeiten zeigen sie Tänze, Umzüge und religiöse Bräuche. In der übrigen Zeit ist das Dorf nahezu rund um die Uhr für das Publikum zugänglich. Es ist dabei, wenn gekocht, gegessen, Toilette gemacht, die Schule besucht und wenn geboren, geheiratet oder gestorben wird. 

 

Elias Canetti – „Die gerettete Zunge. Geschichte einer Jugend“

Draußen vor der Grottenbahn, bevor die Fahrt begann, gab es das Maul der Hölle. Es öffnete sich rot und riesig und zeigte seine Zähne. Es war, wie Fanny das Kindermädchen sagte, Platz in der Hölle, um die ganze Stadt Wien und alle ihre Menschen zu verschlingen. 

Ich setzte mich eilig ins Gefährt, eng an sie gedrückt. 

Der Zug blieb stehen und nun war die Stadt am Meer zum Greifen nahe. Da donnerte es schrecklich, es wurde finster, ein fürchterliches Winseln und Pfeifen war zu hören, der Boden rüttelte, wir wurden geschüttelt, es donnerte wieder, es blitzte laut: alle Häuser von Messina standen grell in Flammen.

Taumelnd verließ ich die Grottenbahn und dachte, nun werde alles zerstört sein, der ganze Wurstelprater.

 

Kino der Attraktion – Interview mit der Regisseurin

Die Fragen stellte Stefanie Schulte Strathaus, Januar 2007

Frage: Mit PRATER machst du einen Sprung vom Kino der Stationen zum Kino der Attraktion: Während in deinen bisherigen Filmen der Wechsel zwischen Stillstand und Bewegung Struktur gebendes Element war, führen deine Reisen den Zuschauer jetzt nicht mehr nach China, Russland oder in die verschlungene Unterwelt Berlins. Stattdessen spielt sich alles an einem einzigen Ort ab – dem Prater in Wien. Was hat dich an diesem Ort so fasziniert? 

Ulrike Ottinger: Was du einen Sprung nennst, ist für mich ein verbindender Spagat. Und, um in der Prater-Terminologie zu bleiben: Diese Kunststücke, Beziehungen zwischen Dingen herzustellen, die auf den ersten oberflächlichen Blick nichts miteinander zu tun haben, sind ja meine Spezialität. Auch die Praterbesucher folgen einer Stationendramaturgie, denn man wandert wie in einer Springprozession von Attraktion zu Attraktion.

Der Prater ist über die Praterstraße in direkter Linie mit der Innenstadt verbunden. Vom Riesenrad kann man zum Stephansdom blicken und umgekehrt – ein Bild für die Verbindung von Sünde und Buße. Deshalb geht es traditionell nach der Firmung im Stephansdom zum Vergnügen in den Prater. Viele Generationen von Österreichern folgten und folgen noch heute dem Ritual dieser doppelten Initiation.

 Obwohl der Prater in unmittelbarer Nähe zur Innenstadt liegt, ist er ein exterritorialer Ort. Hier ist – fast – alles möglich. Die Armen begegnen den Reichen; das Land der Stadt; die Ausländer den Urwienern. Für die wohlhabenden Vergnügungsreisenden, vor allem aus Indien oder den Emiraten, ist der Praterbesuch fester Bestandteil ihrer Europareise. Vielleicht haben ihre neuen Reiseführer aus alten Baedekern abgeschrieben, oder sie haben eine spezielle Vorliebe für diese Art von Vergnügungen.

 Oskar Pastior erzählte mir wenige Monate vor seinem plötzlichen Tod eine Pratergeschichte, die er eigentlich selbst im Film erzählen wollte. Zusammen mit seiner Mutter reiste er, aus Rumänien kommend, nach Wien. Wenn man die Donau aufwärts fuhr, dann wurde damals stolz gesagt: „Wir reisen nach Europa.“ Oskar Pastior war damals ein Junge von etwa dreizehn Jahren; seine Mutter war eine begeisterte Charleston-Tänzerin. Mit ihrer lebensfrohen Unkonventionalität wurde ihr das behäbige Hermannstadt manchmal etwas zu eng. Deshalb genoss sie die seltenen Ausflüge in die Metropole ganz besonders. Schon am ersten Tag gingen sie in den Prater. Ihr Ziel war das Hotel ‚Mysteriös‘. Es hatte bewegliche Treppenstufen, Teppiche, in denen man plötzlich versank, Dielenbretter, die sich verschoben, sobald man seinen Fuß darauf setzte, und Gebläse, die den berühmten Marilyn-Effekt produzierten. Der kleine Oskar betrat also bangen Herzens mit seiner Mutter das Hotel ‚Mysteriös‘, diesen Ort der Sinnestäuschungen. Alle Herausforderungen an Geschicklichkeit wurden von seiner Mutter nicht nur bravourös gemeistert, sondern sie gab zum Vergnügen der Menge Charlestoneinlagen, während Oskar als kleiner Tollpatsch hinterherstolperte. Dies alles konnte von der unten stehenden Menge beobachtet werden, die sich aus diesem Grunde auch immer sehr zahlreich dort aufhielt. Die kleine Show muss so erfolgreich gewesen sein, dass der Schaubudenbesitzer den beiden freien Eintritt anbot, wann immer sie wollten.

Der Prater als ältester Vergnügungspark der Welt war im alten Europa ein feststehender Teil eines Vergnügungs- und im weitesten Sinne auch Kulturprogramms. Der Prater war Modell für Budapest, für Coney Island in New York und auch den alten Treptower Park in Berlin, von dem noch die Emigranten schwärmten, die ich für EXIL SHANGHAI interviewt hatte.

Das Faszinierende an diesem Ort ist, wie Geschichte, eigentlich die Kulturgeschichte der Vergnügungen, quer zu Ständen, sozialen Schichten, Zeitgeist, Moden, technischen Entwicklungen und Erfindungen, in frappierender Weise sichtbar wird. Eine zweihundertfünfzigjährige Geschichte, zu deren Beginn der einst kaiserliche Garten und das Jagdgebiet der Aristokratie für jedermann geöffnet wurde: als Erholungspark im ‚Grünen Prater‘ und als Vergnügungspark im sogenannten ‚Wurstelprater‘ (von Hanswurst).

 

Frage: Mit deinem Film stellst du eine alte Verbindung wieder her: Jahrmarkt und Kino. Ein Nachkomme einer der Praterdynastien berichtet davon, wie seine Vorfahren das Kino als Attraktion für den Prater entdeckten und daraus eine Kinokette wurde. Die nächste Etappe für die Familie nach der Zerstörung des Praters im Jahre 1945 bestand darin, dass der erste Autoscooter angeboten wurde, also ein Fahrgeschäft. Du nimmst den Zuschauer in diese Erlebniswelt mit, wenn du zum Beispiel die Kamera auf die Wagen montierst und mit in die Luft fliegen lässt, wenn du visuell den körperlichen Reiz von Jahrmarktattraktionen auslöst. Welche Rolle spielen für dich als Regisseurin und Fotografin Verführung und Attraktion?

U.O.: Die Schaubuden werden hier Illusionsgeschäfte genannt, und das trifft ja auch für das Kino zu. Es arbeitet mit der Strategie der Verführung, zu der auch die eigene Imagination kommen muss, damit die Sache aufgeht. Speziell bei diesem Film habe ich nochmals über das Thema Illusion und Imagination, Imitation und Simulation, beziehungsweise Simulationstechniken, neu nachgedacht. Das frühe Kino ist ja ein Kino der Attraktionen, und sein Geburtsort ist der Rummel. Es hat viel mehr mit dem siamesischen Zwilling Illusion und Imagination zu tun als das heutige, kommerzielle Kino. Es ist ja vor allem ein Simulationskino geworden, analog zu den Spielhallen, deren Produkte auch Derivate aus der Weltraumforschung und Pilotenausbildung sind. Der Bauchredner, der scheinbar seine Puppe sprechen ließ, ist eher ein Imitator im alten Sinne, ähnlich den Tierstimmenimitatoren in nomadischen oder Jäger-Gesellschaften.  

Was ist Illusion? Ist sie ein Schaukelpferd, mit dem ein Kind im wilden Galopp dahersprengt, ist sie ein Schneeparadies in einer eisgekühlten Mall der Emirate, in dem Gipfelsturm und Pistenfreuden in High-Tech-Ausrüstung und -Outfit erlebt werden können? Ist sie eine Weltraumfahrt, ein Flug in einem Kampfjet, Rennboot oder Motorrad mit Hilfe neuer Simulationstechniken? 

Entspringt dies dem Wunsch, sich etwas zu verschaffen, was man gerne hätte, aber aus Kosten- oder anderen Gründen nicht hat? So haben die alten Vergnügungsstätten die Wünsche der Menschen in einem fantasievollen Illusions- oder Imitationstheater erfüllen können. Der Wunsch nach einer Reise um die Welt wurde in aufwendigen Panoramen, durch die man in fantastisch illuminierten Szenerien fuhr, befriedigt. In der Weltausstellung konnte man an einem Nachmittag von Konstantinopel über Kairo nach Kyoto spazieren und auf dem Rückweg einen Abstecher nach New York oder Sydney machen, im Wachsfigurenkabinett den Großen der Welt Auge in Auge gegenüberstehen, seine Sensationslust mit wohligem Schauer im direkten Vis-à-vis mit einem berüchtigten Mörder befriedigen und das Anrüchige guten Gewissens unter dem Deckmantel des Belehrenden betrachten.

Interessant für meine Bildgestaltung war die Möglichkeit, Attraktionen wie Starflyer, ein Riesenkarussell, die Super-8-Bahn, das Blumenrad, die Geisterbahn oder das Riesenrad für Kranfahrten zu nutzen. Das wirkt dann wie sehr aufwendige Kranfahrten. Aufwendig waren sie natürlich hinsichtlich der Kamerabefestigung, denn man hatte es mit enormen Fliehkräften zu tun. Als Kamerabewegung habe ich ausschließlich diese Fahrten genutzt, das war das ästhetische Prinzip; sonst das Stativ, vor allem für die Praterarchitektur und einige wenige Handkameraszenen mit 

Menschen, denen spontan zu folgen war. Im Ejection Seat, einer extremen Schleuderattraktion, bei der Mutige in den Himmel hinauf geschossen werden, war eine Kamera eingebaut, die mit einem Monitor für die Zuschauer verbunden war. Davor stand immer eine Menschentraube, die fasziniert die Angst- oder Lustschreie verfolgte. Später konnte ein Videomitschnitt vom Himmelsflug gekauft werden. Ich habe diese Möglichkeit genutzt und unsere kleinere HDV angeschlossen – so waren wir ‚live‘ dabei. 

 

Frage: Ein anderes Moment der Verführung findet statt, wenn Veruschka von Lehndorff, die in einem deiner früheren Filme den Dorian Gray spielte, ins Spiel mit den Zerrspiegeln vertieft die Welt vergisst. Der Zuschauer versinkt gemeinsam mit ihr in diesen visuellen Experimenten. Nicht nur Veruschka taucht wieder auf, wir sehen auch Ausschnitte aus FREAK ORLANDO, der die Weltgeschichte der Freaks in fünf Akten erzählt. Inwiefern haben die filmischen Möglichkeiten, das Spiel mit der Illusion, das dir dein Thema erlaubt, mit deinen früheren Filmen zu tun?

U.O.: Der Spiegel, noch mehr aber der Zerrspiegel, hat eine wichtige Bedeutung für mich. Er kommt in den meisten meiner Filme vor, ganz besonders in der Berlin-Trilogie. Tausende von Fotostudien mit Tabea Blumenschein, Magdalena Montezuma und auch einige mit Veruschka sind seit Anfang der siebziger Jahre bis heute entstanden. Es ist ein beunruhigendes oder groteskes, manchmal auch komisches und sehr aussagekräftiges Bild für Verzerrung, Verschiebung, Metamorphose, Überblendung oder Verschmelzung. DORIAN GRAY IM SPIEGEL DER BOULEVARDPRESSE mit Veruschka als Dorian Gray operiert sehr stark mit diesen Möglichkeiten. In Bildnis einer Trinkerin mit Tabea Blumenschein lösen sich Spiegelbilder auf, indem sie mit Flüssigkeiten begossen werden. Bei FREAK ORLANDO ist das Verfremdungsmittel die Metamorphose. In diesem Zusammenhang fällt mir mein Erschrecken ein, als ich bei meiner ersten Indienreise am Fuße von Tempeltreppen oder Innenhöfen auf Bettler, Lepröse oder durch Elefantiasis verunstaltete Menschen traf, wie ich sie ähnlich in der Mittelalterepisode von FREAK ORLANDO ein Jahr zuvor inszeniert hatte. Es war das Erschrecken, wenn die eigene Bildwelt der Realität begegnet. Als FREAK ORLANDO entstand, 1980/81, gehörten Bettler in den Straßen noch nicht zum Alltagsbild so wie heute, wo vor allem die Armen aus Südosteuropa mit gefalteten Händen an jeder Ecke knien, so wie Stifterfiguren auf alten Bildern bescheiden am unteren Bildrand Teil der Szenerie sind. 

 

Frage: Deine Filme waren immer Welttheater: Sowohl die dokumentarischen Filme wie CHINA, DIE KÜNSTE – DER ALLTAG, in denen der Bildrahmen der Realität einen Bühnenraum verleiht, als auch deine Spielfilme, die voller Kunstfiguren sind, umgeben von einer opulenten, oft bühnenhaften Ausstattung. Auch in PRATER stehen den fiktiven, teils sehr artifiziellen Momenten mehrere dokumentarische Szenen gegenüber: Du beobachtest eine Gruppe Jugendlicher, die am ‚Watschenmann‘ ihre Stärke messen, eine einsame Frau, die abends allein auf der Tanzfläche wie in Trance versinkt. Eine indische Familie verkleidet sich vor der Kamera für ein Foto. Fiktion und Dokumentation sind eng ineinander verschlungen.

U.O.: Ja, wie in allen meinen Filmen. Die Fiktion kommt der Realität erschreckend nah, und die Realität ist eine Konstruktion, manchmal eine Illusion. 

 

Frage: Veruschka taucht als Barbarella, also als Kunstfigur auf, die den Prater besucht und uns dabei kurzzeitig an die Hand nimmt. Elfriede Jelinek, Vertreterin der Literatur als Ort der Fiktion, führt in einer anderen Episode über den Prater. Das Voice-Over ist eine Mischung aus Berichterstattung und Märchenerzählung, gesprochen vom Schauspieler Peter Fitz. Welche Rolle spielen für dich diese Figuren im Dokumentarfilm?

U.O.: Der Prater ist eine Zeitmaschine. Deshalb habe ich zusätzlich zu meinen neuen Filmbildern mit allen Arten von Zitaten gearbeitet. Auch Veruschka als Barbarella oder böse Barbiepuppe ist ein Zitat. Elfriede Jelinek hat einen persönlichen und zugleich analytischen Text für den Film geschrieben. Dieser wortgenaue Text in seiner vielfältigen Bedeutung wird von ihr gelesen. Sie zitiert sich also selbst. Das Kino ist selbstreferentiell mit dokumentarischen und Spielfilmausschnitten von der Jahrhundertwende bis in die sechziger Jahre zitiert. Aus einer unglaublichen Fülle großer Literatur habe ich Elias Canetti, Felix Salten und aus einem unveröffentlichten Typoskript von Erich Kästner zitiert. Unter den vielen fotografischen Dokumenten ist Emil Mayer besonders bemerkenswert. Er hat den Prater von der Jahrhundertwende bis in die dreißiger Jahre fotografisch festgehalten, mit einer Vorliebe für die Beobachtung der Zuschauer. Musik von mechanischen Musikautomaten, Kirmes-Orgeln, Orchestrions, Walzen, Lochkarten, mechanischen Puppen, Musicboxen und auch die Ohrwürmer der verschiedenen Zeiten werden zitiert. Diese Zitate, in Verbindung mit den neuen Bildern, zeigen nicht nur Geschichte, sondern bilden ein Amalgam, in dem eine erstaunlich konstante Struktur der Vergnügungen über die Zeiten hinweg deutlich sichtbar wird. 

 

Frage: Der Prater ist ein Freizeitvergnügen für die Masse, gleichzeitig ein Abbild sozialer Gefüge: Tagsüber ist er offen für Familien mit Kindern, abends für Erwachsene, für Paare, für Gruppen, zu allen Zeiten für Jugendliche. Dennoch spricht aus deinem Film auch das Thema der Einsamkeit: Veruschka im Spiegelkabinett, die authentische Angst einer Frau im Schleudersitz kurz vor dem Abflug, die allein tanzende Frau, und sogar die einsame Kamera, die die Jugendgruppe beobachtet. Welche Funktion hat der Prater als sozialer Ort?

U.O.: Wie schon EXIL SHANGHAI berichtet auch PRATER über einen Ort, der exterritorial ist. Diese Orte sind Modelle der Welt im Kleinen. So wie das Shanghai der dreißiger und vierziger Jahre die weltpolitische Situation wie in einem Brennglas fokussiert, denn alle am Zweiten Weltkrieg beteiligten Parteien auf beiden Seiten waren ja in Shanghai anwesend. Der Kolonialismus ging zögerlich zu Ende, die verschiedensten chinesischen Reformbewegungen waren virulent, und die Nationalisten unter Chiang Kai-shek kämpften gegen die Maoisten. Alle prekären sozialen und politischen Fettnäpfchen waren an einem Ort präsent, und es wurde kräftig in sie hineingetreten. Auch der Prater ist ein Modell im Wandel der Zeit, Moden und Technik. Die Entwicklungen zu einer städtischen Gesellschaft und dann zum globalen Dorf mit seinen veränderten Lebensbedingungen sind am Prater besonders deutlich abzulesen. Das, was dem Zeitgeist entsprechend attraktiv ist, wird geboten. Die Weltraumbegeisterung brachte den Ejection Seat, das Mozartjahr den Mozart-Flip, die Entwicklung ging vom handbetriebenen Karussell zur High-Tech-Schleuderattraktion. Testversuche mit Astronauten, deren Belastbarkeit und Grenzen bei Beschleunigung oder extremer Abbremsung ermittelt werden sollte, brachten dem Prater neueste Extremattraktionen.

 

Frage: Du reist mit diesem Film nicht in fremde Welten. Aber die Ferne wurde im Prater nachinszeniert, sozusagen herangeholt. Der Praterbesucher konnte Postkarten aus Klein-Venedig an die Daheimgebliebenen schreiben. 1896 wurde ein Aschantidorf nachgebaut. Seine Bewohner, die aus Afrika eingeschifft wurden, lebten darin wie im Zoo: Der Besucher konnte an diesem Big Brother-Szenario teilhaben. Im Laufe der Zeit kamen die vorgeführten Menschen mit den Österreichern in engen Kontakt. Wie bewertest du diese - mal einer touristischen, mal einer kolonialistischen Imagination entsprungenen – ‚Weltoffenheit‘, die der Prater zur Schau stellte?

U.O.: Neben dem Aschantidorf gab es auch Kabylen, Fidschi-Insulaner, Hottentotten, Indianer, Lilliput-Städte, die vom Publikum besichtigt werden konnten. Ich glaube, es hat mit einem enzyklopädischen Weltbild zu tun. Damals hatten fast alle europäischen Länder ihre Kolonien, und ein Vorherrschaftsdenken der sich selbst als ‚zivilisiert‘ betrachtenden Gesellschaften war allgemeiner Konsens. Gleichzeitig gab es Reformbewegungen nach dem Motto ‚Zurück zur Natur‘, die in diesen ‚Wilden‘ ihr Ideal eines ‚natürlichen Lebens‘ verkörpert sahen. Es gab Künstler, die in exotische Länder reisten, Schriftsteller oder Dichter-Ethnologen, deren Arbeit und Fantasie stark von diesen Kulturen beeinflusst wurde. Der Blick auf die Völkerschauen war ein äußerst widersprüchlicher und oft von Ignoranz und Gefühlskälte gegenüber dem und den Fremden geprägt. 

 

Frage: Aus deinem Film TAIGA stammt folgendes Lied der Schamanen, das durchaus auch im Vorspann von PRATER stehen könnte:
Oben der Himmel,
unten die Erde.
Seht meine Herde,
vom Norden.
Seht meine Pferde, vom Süden.
Schaut, seht, kommt.

 U.O.: P.S.: Der Film ist gerade fertig geworden. Ich sitze in einem Wiener Kaffeehaus bei der dritten Melange und beantworte deine Fragen. Wo in Deutschland gibt es den öffentlichen Raum, in dem man so komfortabel und ungestört und ohne einen Anflug von Konsumzwang sitzen, denken, schreiben, träumen kann? 

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